Die Informationen wachsen wie ein Pilzgeflecht, lautlos, im Verborgenen. Tag für Tag fließen neue Giga- und Terrabytes aus allen Teilen der Erde hinzu, wenn Menschen wie der Fotograf Ralf-Jürgen Stilz ihre Arbeiten in den globalen Pool einspeisen. Stilz schließt die Kamera an den Computer an und lädt die Bilder auf den Rechner hoch, kontrolliert Farbwerte und Schärfe. Abschließend fügt er auf der Homepage mit ein paar Klicks eine Creative-Commons-Lizenz an. »Es fühlt sich richtig an«, sagt er. Auf den ersten Blick ist die Lizenz eine Nebensächlichkeit, doch in dem runden Icon unter seinen Bildern, das aussieht wie ein Verkehrsschild, steckt das Potenzial für eine kleine Revolution. Konsumenten werden zu Produzenten, mit Creative-Commons-Lizenzen kann jeder bestimmen, wie andere die eigenen Fotos, Texte oder Musik nutzen dürfen – und zwar für ganz umsonst. Wikipedia, das erfolgreichste Gemeinschaftsprojekt des Internets, basiert auf diesen Lizenzen, und auch Barack Obama veröffentlicht seine Fotos auf whitehouse.gov auf diese Art und Weise. In einem der Icons ist zum Beispiel ein Strichmännchen zu sehen. Das bedeutet: Man darf das Werk nur verwenden, wenn man den Namen des Urhebers nennt. Ein durchgestrichenes Dollar-Zeichen bedeutet »Keine kommerzielle Verwendung «.
Ein Ist-gleich-Zeichen verbietet die Modifikation. CC ist längst nicht mehr nur ein Konzept für Software-Programme, sondern auch für Filme, Mode und Möbel. Einige haben sogar ein freies Bierrezept ins Netz gestellt. Alles begann im Jahr 2001, als der amerikanische Rechtsexperte Lawrence Lessig das CC-Projekt mit einigen Netzaktivisten gründete. Ihr Ziel: einen einfachen rechtlichen Standard für gemeinschaftliche Arbeiten im Internet schaffen. »Creative Commons« ist ein direkter Nachkomme der sogenannten Free-Software-Bewegung, einer Gruppe von Programmierern und IT-Forschern um Richard Stallman, die bereits in den 80er-Jahren an US-Universitäten die Software dem Zugriff von Megakonzernen und Regierungen bewahren wollten, und mehr Rechte für den Nutzer einforderten. »Als ich 2005 anfing mich mit dem Thema zu beschäftigen«, erinnert sich die 27-jährige Medienexpertin Nicole Ebber, »da handelte es sich nur um einen verschworenen Haufen von Netzaktivisten.« Im Jahr 2009 aber habe die Creative-Commons-Bewegung eine kritische Masse erlangt, sie spiele jetzt zunehmend im Medien-Mainstream eine Rolle.
Traditionelle Medien wie etwa die BBC oder der TV-Sender Al Jazeera veröffentlichen mittlerweile Texte, Videos und Bilder unter einer CC-Lizenz. Der Grund: »Ein freies Werk verbreitet sich einfach schneller und weiter«, sagt Nicole Ebber. Und an Reichweite und Zielgruppenmaximierung sind alle Medien interessiert. Wenn ein Fotograf wie Ralf-Jürgen Stilz ein Bild nur auf der eigenen Homepage veröffentlicht, versehen mit dem markigen Vermerk »all rights reserved«, dann sehen es natürlich weniger Leute, als wenn er nur »some rights« wie etwa die kommerzielle Verwendung beschränkt, und Besucher und Google-Nutzer das Bild kopieren, weiterverschicken und bearbeiten können.
Creative Commons ist nicht gleichbedeutend mit einer Gratiskultur, sondern bildet auch die Basis für neue Geschäftsmodelle. »Mein Problem ist nicht Piraterie, sondern Unbekanntheit «, sagt der Science-Fiction-Autor Cory Doctorow, »wenn Leute meine Bücher nicht kaufen, liegt es wahrscheinlich daran, dass sie noch nie davon gehört haben und nicht daran, dass ihnen jemand eine elektronische Version umsonst gegeben hat.« Doctorow veröffentlicht seine Romane auf der Homepage unter einer CC-Lizenz. Obwohl einer der Texte mehr als 750.000 mal runtergeladen wurde, ist die englische Ausgabe in der siebten Printauflage angekommen. »Fans übersetzen das Werk in andere Sprachen, machen Visualisierungen«, sagt Doctorow, »ich kann mich vor Aufträgen kaum retten und die Kampagne hat mich null Cent gekostet.« In der digitalen Ökonomie sind Aufmerksamkeit, Reichweite und Reputation, eine Form von Kapital, das auch in Euro und Dollar umgetauscht werden kann. Ein (gutes) Werk unter CC-Lizenz wirkt als Visitenkarte, die den Schöpfern zur Eigenwerbung und Akquise von Folgeaufträgen dient. Die Band Nine Inch Nails stellte Anfang 2008 ihr neues Album frei ins Netz. Trotzdem oder gerade deswegen wurde es zum meistverkauften Album im MP3-Store von Amazon. Innerhalb einer Woche nahmen Trent Reznor und Co mehr als 1,5 Millionen Dollar ein.
Ronen Kadushin setzt den letzten Strich unter eine Skizze eines Stuhls, schließt den Entwurf dann aber nicht auf der passwortgesicherten Festplatte ein, sondern stellt ihn frei ins Netz. Kadushin ist einer der Vorreiter der sogenannten Open-Design-Szene in Deutschland, die das CC-Prinzip nicht nur auf Dateien und Programme beschränken, sondern auch in der physischen Wirklichkeit anwenden will. Von Kadushin finden sich Baupläne von Kerzenständern, Stühlen und Tischen im Internet. »Ich sage den Leuten: Bitte kopiert meine Sachen. Nutzt sie. Vielen Dank.« Auf seiner Homepage findet man eine komplette Wohnungseinrichtung, man kann sich die Pläne ausdrucken und die Objekte bei metallverarbeitenden Betrieben in der Nähe herstellen lassen. Das Möbeldesign ist umsonst – sofern man es für nicht kommerzielle Zwecke, also Essen, Wohnen, Leben benutzt. Wenn eine Galerie einen Stuhl oder eine Lampe von Kadushin in Kleinserie herstellen will, dann muss sie Kontakt mit ihm aufnehmen, und sie vereinbaren eine Aufteilung des Profits. »Meine Entwürfe bestehen aus so wenigen Teilen wie möglich«, sagt Kadushin, »so ist das Design zugänglicher. Die meisten Leute verändern etwas, wenn sie die Möbel herstellen lassen, das Material oder die Farbe.« Die Eitelkeit früherer Designergenerationen, die ihr Werk schützten und vor Produktkopien warnten, ist ihm fremd. »Ich finde das gut. Ich profitiere ja auch vom Input der Nutzer.« Die technologische Revolution hat die Beziehung zwischen Produzent und Konsument auch in der Musik verändert. Früher stand zum Beispiel ein Sänger oben auf der Bühne (oder im teuren Plattenstudio), weit entfernt von seinen Fans. Heute hören diese sich die Musik nicht nur passiv an, sondern suchen, kopieren, teilen und verändern die Songs auf Open- Music-Seiten. »Wenn ein Künstler eine CC-Lizenz benutzt«, sagt Nicole Ebber, »dann zeigt er, dass er seine Fans ernst nimmt und ihnen vertraut. Das honorieren die Leute.«
CC-Erfinder Lawrence Lessig ist überzeugt, dass der kreative Umgang mit den digitalen Werkzeugen das wichtigste Bildungsgut des 21. Jahrhunderts wird. In Zukunft, so die Theorie, können Menschen nicht nur Texte lesen und schreiben, sondern auch reale Produkte und komplexe Dienstleistungen gemeinsam herstellen. Ein Beispiel dafür ist das Open Architecture Network, ein Netzwerk, das kollektiv Lösungen für städtebauliche und statische Probleme sucht, und eine Sammlung von architektonischen Skizzen und Plänen anbietet. Laut OAN-Gründer Cameron Sinclair werden auf der Seite zwar auch geschützte Baupläne veröffentlicht, »von denen wir alle lernen können«, mehr als 50 Prozent der Designs und Konzepte aber seien frei, und können von Bauherren und Architekten auf der ganzen Welt umgesetzt werden. Manchmal bekommt man aber auch einfach nur einen guten Rat. »Wenn zum Beispiel ein Architekt ein Projekt aus Sri Lanka einstellt, dann wird ihm ein erfahrener Kollege sagen: »Du hast es mit einer buddhistischen Gesellschaft zu tun. Dieser Entwurf funktioniert dort nicht. Hier ist mein Ratschlag ...« Am Ende, denkt Ronen Kadushin, verändern neue Eigentumsmodelle wie Creative Commons nicht nur die Interaktion und Kommunikation im Netz, sondern auch die sogenannte Realwirtschaft. »Computer und moderne Fertigungstechnologien machen die Produktion immer billiger.« Früher, so Kadushin, waren das Designerbüro und die Fabrik getrennte Sphären, man war auf einen Hersteller angewiesen, der die Idee umsetzt. Heute kann er auf dem Laptop einen Stuhl entwerfen, und noch am selben Tag mit sogenannten Materiedruckern ein erstes Modell herstellen.
Auch in kleinen Werkhallen stehen mittlerweile Lasercutter zur Verfügung, die mit Daten gefüttert werden, und billige Einzelstücke herstellen. »Wir betreten eine neue Welt«, sagt Kadushin, »es ist aufregend dabei zu sein.« Auch Menschen ohne Zugang zur Lasertechnologie werden zu Ego-Fabrikanten. Im Netz kann man zum Beispiel für knapp 1.000 Dollar den Makerbot bestellen, einen Materiedrucker, der es erlaubt, beliebige Formen und Objekte in der Größe bis 10 mal 10 mal 15 cm herzustellen: Werkzeuge, Zahnräder, kleine Kunst- und Gebrauchsgegenstände. In der Online-Community Thingiverse teilen Nutzer ihre Entwürfe und Ideen für den Makerbot unter CC-Lizenzen im Netz. Es ist, sagen Nutzer, »als hätte man die chinesischen Fabriken auf dem Schreibtisch stehen.«
Tobias Moorstedt (32) hat im letzten fluter zum Thema »Medien« über Pro Publica geschrieben – eine gemeinnützige Presseagentur in New York. Das Heft mit dem Text könnt ihr immer noch bestellen.