Was man auf und mit dem Markt so alles erleben kann: Fünf Marktteilnehmer erzählen.
Gertraud Freisinger, 71, Marktfrau auf dem Viktualienmarkt in München.
„Schon meine Großeltern und meine Eltern hatten hier einen Stand, an dem sie Blumen und Kränze verkauften. 1942 ist er abgebrannt, wir haben ihn wieder aufgebaut. 1949, als ich 14 Jahre alt war, starb meine Mutter. Deswegen musste ich mitanpacken. Markt bedeutet: Aufstehen um fünf Uhr, bei jedem Wetter, und um sechs Uhr morgens hier sein. Ich habe mich daran gewöhnt. Inzwischen arbeite ich drei Tage in der Woche, bis vor wenigen Jahren hatte ich nur sonntags frei. Ich habe am Stand meiner Eltern gearbeitet, 1960 bin ich an den Gemüsestand meines Mannes gewechselt. Kennengelernt und verliebt haben wir uns auf dem Markt. Wir haben fast nur Stammkunden: vom Angestellten über Millionäre bis zu so manchem Münchner Lokalpromi. Die Gespräche gehen über kleine Nettigkeiten hinaus, eine Bindung, die ins Private reicht, baut man aber trotzdem kaum auf. Das hat auch damit zu tun, dass die Leute hastig sind, was aber kein Phänomen heutiger Tage ist. Der Markt ist eben ein Ort, an dem man im Vorbeigehen einkauft. Früher ging es manchmal noch enger und hektischer zu: Da führte eine Straße mitten durch den Viktualienmarkt, direkt an unserem Stand vorbei – wir hatten dadurch weniger Platz für unsere Auslagen. Das Angebot richtete sich damals viel stärker nach der Jahreszeit. 1960 gab es im Winter keine Kräuter außer Schnittlauch, Petersilie und Suppenkraut. Basilikum hätten Sie da vergeblich gesucht, in Öl eingelegte Antipasti waren undenkbar. Heute kauft vor allem auf dem Markt ein, wer ausgefallene Zutaten braucht. Im Moment ist die asiatische Küche gefragt. Daher haben wir etwa Koriander oder Ingwer. Als ich jung war, bauten viele Händler die Lebensmittel selbst an, die sie verkauften, für die konnten sie dann auch die Preise bestimmen. Man brauchte kaum Verpackungsmaterial, die Kunden brachten Körbe und Gläser mit. Ich habe nie bereut, dass ich auf dem Markt gelandet bin. Klar, als Kind hatte ich andere Träume: Kindergärtnerin wäre ich gern geworden. Nach dem Tod der Mutter blieb mir aber gar keine andere Wahl als mitzuhelfen. Den Stand meiner Eltern haben wir verkauft, als mein Vater sich zur Ruhe setzte. Heute werden dort Würstel angeboten. Der Viktualienmarkt hat mein Leben geprägt. Wenn mein Mann und ich uns eines Tages zur Ruhe setzen, führt unser Sohn den Stand weiter.“
Jens Zeiger, 28, Energieelektroniker, Corning Cable Systems, Neustadt bei Coburg.
„Als ich hier vor 13 Jahren meine Ausbildung begonnen habe, war ich mir sicher, in dieser Firma alt werden zu können. Meine Freunde haben gesagt: Respekt, Siemens, das ist was Bodenständiges. Damals gehörten wir ja noch zu Siemens, was Sichereres gibt es gar nicht, dachte ich. 1999 wurde unsere Kabelproduktion ausgegliedert, 2000 dann an die amerikanische Firma Corning Systems verkauft. Die Amerikaner kamen und haben uns erzählt, wie toll unser Standort ist. Bis wir letztes Jahr alle in die Kantine kommen mussten, wo man uns sagte, dass die Fertigung nach Polen verlagert wird. Aus Kostengründen. Ich habe eine riesige Wut auf die Leute, die diese Entscheidung getroffen haben. Die haben keine Ahnung. Hier werden seit 1937 Kabel gefertigt, wir machen unsere Arbeit gut, es gibt keinen Grund, das Werk zu verlagern. Ich glaube, das ist eine politische Entscheidung. Es ist schon auffällig, dass viele amerikanische Firmen nach Beginn des Irakkrieges nach Polen gingen. Ins Neue Europa, das treu an Amerikas Seite stand. Dafür gibt es dann auch noch EU-Fördermittel. Aber egal, wie ich es drehe: Ende September ist mein Arbeitsplatz weg. Für ein Jahr komme ich in einer Auffanggesellschaft unter, bei achtzig Prozent meines Gehalts, dann bin ich arbeitslos. Mit zwei kleinen Kindern, dreieinhalb Jahre und sechs Monate alt, und einem Haufen Schulden auf meinem Haus, das gerade fertig ist. Hier in der Region sieht es nicht gerade rosig aus mit Arbeitsplätzen. Sicher: Ich hätte erst mal nach Polen mitgehen können. Aber erstens gebe ich mein Haus hier nicht auf, das sehe ich nicht ein. Ich will den Zwängen nicht folgen, die uns die Wirtschaft aufdrücken will: Mobilität, Flexibilität und so. Meine Familie wohnt hier und bleibt hier. Fertig. Zweitens werde ich nicht meinen polnischen Nachfolger anlernen. Dafür wurden hohe Sonderzahlungen geboten, aber ich mache das nicht. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, so viel können die nicht zahlen. Ich will meinen Kindern nicht sagen, ich hätte auch noch dazu beigetragen, dass mein Job jetzt in Polen getan wird.
Die Maschinen, die ich bediene, kenne ich in- und auswendig, die meisten spreche ich mit Spitznamen an. Das ist mein Arbeitsplatz, meiner! Den hier abbauen und in Polen aufbauen zu müssen, das ist so zynisch, das grenzt für mich an seelische Grausamkeit. Für mich ist die Globalisierung eine moderne Form der Sklaverei. Die großen Konzerne wissen nicht mehr, was soziale Verantwortung bedeutet. Eineinhalb Jahre hab ich noch ein Einkommen, und unser Betriebsrat hat uns ziemlich gute Abfindungen erkämpft. Aber es wird trotzdem ernst. Ich spüre die Angst schon im Nacken. Ich will nur meinen Kopf über Wasser halten können und eine ruhigere Zukunft. Mit nicht zu viel und nicht zu wenig zum Leben.“
Thomas Stracke, 42, Berlin, Unternehmer.
Viel Geld brauchte Thomas Stracke nicht. 5500 Euro waren es, damit wollte er die zweite Auflage seiner Berliner Tüte finanzieren. So nennt der 42-Jährige die Papiertüten, die er in seinem Blütenverlag mit Literatur unbekannter Autoren bedruckt und über Buchhandlungen verkauft. Zu einer Bank konnte er mit der Idee nicht gehen. „Für den Berater hätte sich das Gespräch nicht mal bei einer Summe von 30 000 Euro gelohnt“, sagt er. Also nahm er bei einem Mikrokredit-Institut einen Mikrokredit mit zehn Prozent Zinsen auf. Ein stolzer Satz. Für Stracke stimmte die Gegenleistung trotzdem. „Mir war es wichtig, dass der Kredit dynamisch gestaltet ist.“ Das heißt: Wann er seine Schulden zurückzahlte, bestimmte er selbst. Ein Anruf, schon ließen sich die Überweisungen ein paar Tage vorziehen oder hinauszögern. Je nach Einkommen eben. So flexibel arbeiten Banken nicht. Mikrokredite setzen genau darauf. Ursprünglich wurden sie in den Siebzigern als Instrument der Entwicklungshilfe erfunden. Man wollte die für Banken wenig lukrativen Kleinunternehmer unterstützen. Seit einigen Jahren wird das Modell auch in Deutschland angeboten. Stracke hält es für ideal. Zwar musste der ehemalige Philosophiestudent lernen, wie man einen Businessplan erstellt. Und um sich über Wasser zu halten, baut er nebenbei Möbel. Sein Verlag aber, den er 2004 gegründet hat, trägt sich inzwischen. Und da er einen neuen Computer braucht, überlegt Stracke gerade, einen zweiten Mikrokredit aufzunehmen. „Das ist das günstigste Geld, das ich bekommen kann“, sagt er. Trotz der hohen Zinsen.
Felix, 26, war nach seiner Ausbildung zum Schreiner arbeitslos, dann bekam er kurz Hartz IV. Jetzt studiert er in Marburg Wirtschaftswissenschaften. Seit zwei Jahren gehört er zu den „Überflüssigen“, einem Netzwerk, das im Oktober 2004 als Reaktion auf die Hartz-Gesetze entstand.
Ihr habt gegen Peter Hartz demonstriert und Bert Rürup eine Torte ins Gesicht geworfen. Was habt ihr gegen die beiden?
Beide stehen für ein soziales Entrechtungsprogramm: Hartz wegen der nach ihm benannten Arbeitsmarktreform und Rürup, weil er letztes Jahr gefordert hat, das Arbeitslosengeld II generell um dreißig Prozent zu kürzen. Das sollte den Anreiz für Arbeitslose erhöhen, für noch niedrigere Löhne zu arbeiten und so zu beweisen, dass sie „arbeitswillig“ sind.
Was ist das „Entrechtungsprogramm“?
Der Kapitalismus steht dafür, Armut und Reichtum zu schaffen. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde in den letzten Jahren immer größer, dazu haben auch die Hartz-Gesetze beigetragen. Rechte, die zwischen abhängig Beschäftigten und Arbeitgebern ausgehandelt werden, werden mehr und mehr zurückgenommen, die Arbeitgeber immer stärker von ihren Pflichten entlastet. Wer nicht jeden Job annehmen will, dem droht sozialer Abstieg oder die Kürzung von Arbeitslosengeld II, Arbeitslose werden in Ein-Euro-Jobs gezwungen. Gegen diese Verarmung und Entrechtung wollen wir etwas unternehmen.
Wer sind die „Überflüssigen“?
Leute aus Sozialprotestinitiativen, aus politischen Künstlergruppen, Schüler, Studenten, Arbeitslose, Gewerkschaftsmitglieder, Putzkräfte, Verkäufer, eine Sekretärin. Ich komme aus der antirassistischen Bewegung. Was das Alter angeht, ist von 16 bis 65 alles vertreten, wir hatten schon Aktionen in ganz Deutschland, von Lübeck bis München.
Ihr tragt immer weiße Masken. Warum?
Am Menschen interessiert – wenn überhaupt – nur noch die reine Arbeitskraft. Die Person und das Gesicht dahinter spielen im Kapitalismus keine Rolle mehr – daher unsere Masken. Wir stehen für Menschen, die weltweit von Armut und Ausbeutung betroffen sind, für Flüchtlinge genauso wie für die allein- erziehende Mutter, die sich mit Niedriglohnjobs durchschlagen muss.
Wie verschafft ihr euch Gehör?
Vor allem mit Aktionen des zivilen Ungehorsams. Einer unserer Slogans heißt: „Alles für alle!“ Deshalb waren wir im Berliner Nobelrestaurant „Borchardt“. Da leisten sich Menschen für 150 Euro ein Mittagessen, so ein Betrag steht einem Hartz-IV-Empfänger nach dem Regelsatz für die Lebensmitteleinkäufe eines ganzen Monats zur Verfügung. Darauf wollten wir aufmerksam machen und haben gesagt: „Auch wir haben Hunger, auch wir wollen ans Buffet und lecker essen!“
Wie haben die Gäste reagiert?
Im Großen und Ganzen freundlich. Einige haben sich solidarisiert, manche haben aber auch gesagt, es gehöre sich nicht, von fremden Tellern zu essen. Nur die Geschäftsleitung war wenig erfreut und hat uns gebeten, das Restaurant zu verlassen. Wir wurden dann regelrecht aus dem Lokal gezerrt.
Wie wünscht ihr euch denn die Gesellschaft?
Das kann man nicht so genau sagen, das ist ein Prozess. Klar ist, wir wollen eine Welt, in der es keine Ausbeutung und Unterdrückung mehr gibt. Aber wir entwickeln kein Manifest für die befreite Gesellschaft.
Andreas Kratzer, 36, Bauer, Gablingen. Er hat 3000 Hühner, 15 Hektar Land und liefert Eier auf Onlinebestellung. Für seine kreativen Einfälle erhielt Kratzer 2003 den Innovationspreis der bayerischen Land- und Forstwirtschaft.
„Mein Vater ist aus der Not heraus aufs Huhn gekommen. Er hatte sieben Kühe und sieben Hektar Land. Es ging um die Existenz. Also schaffte mein Vater Hühner an, 300 Stück. Ein Bäcker im Ort sollte ihm die Eier abkaufen. Aber schon als mein Vater mit der zweiten Ladung kam, wollte der sie nicht mehr haben – weil die jungen Hühner nur so kleine Eier legten. Das gab sich mit der Zeit: Wenn Hühner älter werden, legen sie automatisch größere Eier. Was blieb, war das Absatzproblem. Eier muss man selbst vermarkten, eine garantierte Abnahme oder staatliche Subventionen gibt es nicht. Mein Vater lernte dann einen Eierhändler kennen, belieferte Kantinen und verkaufte die Eier parallel dazu in unserem Hofladen.
Den Laden gibt es heute noch. Aber mittlerweile habe ich nicht nur 3000 Hühner und 15 Hektar Land, sondern seit 1999 auch eine Website, die ich für Vermarktung und Verkauf nutze. Wöchentlich wird eishop.de von 500 verschiedenen Usern besucht. Als vor vier, fünf Jahren der erste Kunde Eier online bestellte, dachte ich: Hey, es funktioniert! Mittlerweile verschicke ich alle zwei Wochen einen Newsletter mit unseren Angeboten, aber auch mit Rezeptideen der Kunden. Die können auch „Eier-Abos“ abschließen. Wir liefern im Großraum Augsburg vor die Haustüre, neben Eiern auch Teigwaren und Eierlikör. Damit sich die Fahrten lohnen, müssen wir in einem Gebiet so viele Kunden wie möglich gewinnen. Das geht nur mit Werbung: Also haben wir Eierschachteln mit Prospekten verteilt. Das Haustürgeschäft ist hart, aber im Schnitt gewinnen wir mit hundert solcher Schachteln dreißig neue Kunden. Eine weitere Idee setze ich gerade um, die „Ei-Points“: Ein Kunde wirbt bei Bekannten und verteilt später die Bestellungen. Dafür bekommt er zehn Prozent vom Umsatz. Im Stall bin ich heute kaum noch, mehr im Büro. Vom Internetverkauf allein kann ich nicht leben. Aber er ist die Zukunft! In den vergangenen zehn Jahren musste bestimmt die Hälfte der kleinen Höfe in der Gegend aufgeben. Da stirbt eine Kultur aus. Deshalb will ich andere davon überzeugen, dass meine Vermarktungsideen auch in ihrer Region funktionieren. Viele Berufskollegen sind leider skeptisch. Ob ich selbst im Internet einkaufe? Kommt auf die Artikel an. Bestimmte Dinge muss man vorher sehen, fühlen und probieren.“