Drei Menschen haben mich auf dem Gewissen. Sie sind schuld, dass aus einem rosigen Kind ein grauer Erwachsener wurde. Und die können heute was erleben: Ich werde sie zur Rede stellen. Die Beweislast ist erdrückend. Der Telefonhörer liegt in meiner Hand wie der Hammer eines Richters.

Die Klassenlehrerin: Demütigung im Poesiealbum

Der erste Anruf. Ihre Stimme klingt, als trüge sie noch immer geblümte Hosenröcke. Vier Mal hat es geläutet, dreistellige Festnetznummer, dann meldet sie sich mit Namen. Meine alte Klassenlehrerin.

Sie hatte damals ein eigenes Bewertungssystem. Noten lehnte sie ab, stattdessen stand unter den Arbeiten „fein“ oder „leider nicht so gut“, geschrieben mit rotem Kugelschreiber. „In Ordnung“ entsprach einer Drei.

Eines Tages gab ich ihr ein Erinnerungsalbum, in das sich zuvor schon meine Mitschüler eingetragen hatten, die Kategorien lauteten „Lieblingsfarbe“, „Lieblingsbuch“ oder „Was ich einmal werden möchte“. Ihre Antwort lautete: „Weise“.

Ganz unten gab es eine leere Sprechblase, über der „Was ich Dir immer schon mal sagen wollte“ stand. Mit großer Spannung erwartete ich die Geständnisse der Mädchen aus meiner Klasse. Die Lehrerin indes schrieb mit ihrem roten Kugelschreiber hinein: „Du bist in Ordnung.“

„Guten Abend, hier spricht Dirk Gieselmann.“
„Bitte, wer?“

„Ich war Ihr Schüler von 1989 bis 1991.“
„Wie war noch gleich Ihr Name?“

„Gieselmann, Dirk. Klasse 5 a und 6 a.“
„Hm. Ja. Dirk. Kann sein. Warum rufen Sie mich an?“

„Ich rufe Sie an, um zu fragen, warum Sie mir als Mensch eine Drei gegeben haben.“

Der Dorfschläger: Zum ersten Mal auf die Fresse

Der zweite Anruf. Er bellt ins Telefon: „Ja?“ Natürlich bellt er, er hat ja immer nur gebellt: der Dorfschläger. Der um einen Kopf größere und um einen Kopf dümmere Junge, der mich meines Lebens nicht mehr froh werden ließ.

Einmal kam er auf einem winterlichen Stoppelfeld auf mich zu, aus einem guten Kilometer Entfernung, immer größer werdend, ein Bote des Unheils und das Unheil selbst, und als er schließlich vor mir stand, schlug er mir, wortlos grinsend, mit der Faust ins Gesicht. Das Blut troff in den Schnee, und er ging davon, wie ein Handwerker, der Feierabend hat.

Ich war nicht vor ihm geflohen, weil ich es hinter mir haben wollte. Schlug er mich nicht heute, schlug er mich morgen. Seine Abreibungen waren so unausweichlich wie die Badewanne am Samstagabend.

„Ja?“
„Hallo. Ich bin’s, Dirk. Der Junge, den du früher verprügelt hast.“

„Ja, und?“
„Ich rufe an, um dich zu fragen, was die Scheiße sollte.“

Der Schwarm: Abfuhr in der Eisdiele

Der dritte Anruf. „Sie sind verbunden mit der Mailbox von …“ Den Namen sagt sie selbst, aber nicht mehr mit der Stimme, die mir noch immer im Ohr klingt, vom Vorlesen im Deutschunterricht. Ich schloss stets die Augen, wenn sie dran war, sie klang wie ein Engel: „Es war einmal …“

Wir gingen ein paarmal Eis essen, im Sommer, als es bei Tomasella den Italia-90-Becher gab, einen Pokal mit sechs Kugeln, die wir uns teilten. Als er leer war, fragte ich sie, ob sie mit mir gehen wolle. Sie schaute mich an, ich schaute zu Boden, sie sagte: „Ich habe schon einen Freund, er sieht aus wie Hobie von ‚Baywatch‘ und wohnt in Wilhelmshaven. Wir haben uns im Urlaub kennengelernt.“

„Hallo, bist du es, Dirk?“
„Ja, vielen Dank für deinen Rückruf.“

„Mensch, das ist ja ewig her! Wo steckst du? Was machst du? Warum hast du angerufen?“
„Ich habe angerufen, um dich zu fragen, warum du mir das Herz gebrochen hast.“

Meine zwei Hälften

Irgendwann in jenen Jahren, in denen diese drei Menschen auf den Plan traten, zwischen 1989 und 1991, zersprang mein Leben in zwei Hälften.

Die eine, nennen wir sie mein Dasein, ist die, auf der ich jetzt stehe: ein sogenannter Mann von 38 Jahren, verheiratet, zweifacher Vater, dreifacher Patenonkel, Raucher, Gelegenheitsschwimmer, Journalist mit Sozialversicherungs- und Steuernummer, IBAN und BIC, leicht überdurchschnittlichem Jahreseinkommen, 571 Freunden bei Facebook und fünf im echten Leben, mit beginnendem Haarausfall, einem fehlenden Zahn und einem Hang zu herbstlicher Trübsal, verhinderter Langschläfer, Besitzer einer erklecklichen Sammlung melancholischer Schallplatten und eines 18 Jahre alten Autos, Trauergast auf bislang elf Beerdigungen, darunter die eines Schulfreundes, leicht kurzsichtig, aber zu eitel für eine Brille, ein kleines schwarzes Herz auf dem linken Handgelenk, tätowiert in einer Phase des Liebeskummers vor nunmehr elf Jahren.

Kurz: Ich bin ein leidlich funktionierender, von Zumutungen mehrfach vernarbter Erwachsener, einer von vielen. Von sehr vielen.

Die andere Hälfte, nennen wir sie Kindheit, treibt unaufhörlich fort von mir wie der durch tektonische Kräfte abgebrochene Teil eines einstmals ganzen Kontinents. Erst war da ein Riss, der zum Rinnsal wurde, dann zum Fluss und schließlich zum unüberwindlichen Ozean. Ich kann meine Kindheit nicht mehr sehen, nur noch vermuten, was dort vor sich geht, auf diesem anderen, fernen Kontinent. Ich spähe in den Nebel, dorthin, wo das verlorene Land ja schließlich irgendwo liegen muss.

Lebt mein geliebter Hund noch? Spiele ich mit meiner Eisenbahn? Freue ich mich auf Weihnachten? Weine ich, wenn der SV Werder verliert? Verstecke ich mich hinter dem Sofa, wenn Ajatollah Chomeini in der „Tagesschau“ gezeigt wird? Werde ich von meinen Eltern getröstet, wenn ich Angst habe? Sitze ich im Baumhaus und lese Indianercomics? Träume ich davon, ein berühmter Sportler zu werden? Bin ich immer noch so gleichbleibend glücklich und freue mich auf jeden neuen Tag? Glaube ich noch, dass ich der Mittelpunkt der Welt bin?

Schwer zu entziffernde Botschaften, die Antworten auf meine Fragen sein könnten oder auch nicht, dringen zu mir herüber, wie Schildkröten, die den Atlantik überqueren, um auf der anderen Seite ihre Eier am Strand abzulegen. Nennen wir es Erinnerung.

Es gibt auch Artefakte, in denen ich lesen kann, sie stehen in der Schrankwand meiner Eltern, im Fach hinten links, unter dem guten Kaffeeservice, aus dem zuletzt bei meiner Konfirmation getrunken wurde. Man muss das Sofa zurückschieben, um die Tür öffnen zu können: Dort stehen die Fotoalben. Darin bin ich noch das Kind, das Dirki heißt. Der Mittelpunkt der Welt.

Auf jedem Foto bin ich der Hauptdarsteller: Ich sitze feist am Geburtstagstisch, vor mir ein Teller Waffeln mit Puderzucker, ich fliege im Kettenkarussell vorüber, unscharf und fidel, stehe mit Eimerchen und Schippe am Strand von Norderney, Bauherr einer erbärmlichen Sandburg. Der Stolz meiner Eltern steht als Gestaltungswille hinter diesen Bildern: Unser Sohn! Ist er nicht einzigartig?

Ich war frei von Zweifeln und Kummer, es gab keine Brüche, alles war Gegenwart. Der Gedanke, dass mich jemand nicht mögen könnte, war mir fremd. Ich war ein Ganzes, eins mit mir selbst. Dumm genug, um glücklich zu sein.

Dann bekam ich zum ersten Mal auf die Fresse.

Drei Ereignisse, eine Zäsur

Ich glaube, es war an der Bushaltestelle, an einem Herbstmorgen, als der Dorfschläger befand, ich sei nun alt genug, um zu erfahren, dass mich nicht alle Menschen liebten, vor allem er nicht. Ich saß hinterher schluchzend auf der Rückbank, das Mädchen von der weiterführenden Schule reichte mir krankenschwesterlich ein Taschentuch.

„Äh, hahaha“, sagt der Dorfschläger. „Das ist lange her.“
„Ich kann mich ganz gut erinnern“, sage ich. Das Herz pocht mir bis zum Hals. Uns trennen 500 Kilometer, aber ich habe immer noch Angst, dass er mir eine reinhaut.

„Also, ja“, sagt er. „Was soll ich sagen? Mir war wohl langweilig.“

„Deswegen hast du mich verprügelt?“
„Denke ich mal.“

Es waren ganz sicher nicht nur seine Prügel, die Benotung durch meine Klassenlehrerin als mittelmäßiger Mensch und die Abfuhr in der Eisdiele, die das Ende meiner Kindheit bedeuteten: die bittere Erkenntnis, verletzlich zu sein, die ungemütliche Ahnung, dass die Welt zu groß ist, um ihr Mittelpunkt zu sein, und zu feindlich. Aber sie stehen symbolhaft für diese Zäsur, finstere Metaphern meiner Biografie. Als wären sie die ersten Buhrufe für einen Kinderstar gewesen, der bislang nur „Mama“ hatte singen müssen, um alle zu verzücken. Ein Schock, eine narzisstische Kränkung.

„Ich habe Ihnen als Mensch eine Drei gegeben?“, sagt die Lehrerin, als hörte sie zum ersten Mal von einem himmelschreienden Skandal. „Das kann ich ja kaum glauben.“
„Doch, doch. Sie haben es mir sogar ins Album geschrieben“, sage ich. „Es liegt hier vor mir. Du bist in Ordnung, steht da. Das war doch Ihre Drei.“

„Ja, das stimmt schon. Aber …“
„Warum habe ich keine Zwei bekommen? Was hat gefehlt?“

„Das habe ich da wohl einfach so hingeschrieben, ohne groß nachzudenken.“

Als ich mit sieben Jahren bei einem Schwimmwettkampf im Freibad meiner Heimatstadt die Goldmedaille über 50 Meter Kraul gewann, fühlte ich mich wie der einzige Olympiasieger der Geschichte. Unerheblich, dass ich in meiner Altersklasse der einzige Teilnehmer gewesen war. Heute kann ich berufliche Erfolge erzielen, Lob einheimsen, Preise verliehen bekommen: Ich halte mich dennoch für nur einen von sieben Milliarden Menschen, dessen Tun nicht wesentlich wichtiger ist als das einer Waldameise. Mitunter denke ich sogar, meine Frau hat mich nur geheiratet, weil der Junge aus Wilhelmshaven, der aussieht wie Hobie aus ‚Baywatch‘, nicht mehr zu haben war.

„Ich habe dir das Herz gebrochen?“, fragt das Mädchen aus der Eisdiele. „Das ist ja niedlich.“
„Finde ich eigentlich nicht“, sage ich. „Um ehrlich zu sein.“

„Entschuldigung. Wie lange warst du denn traurig?“
„Lange. Sehr lange.“

„Also, das ist schon ein bisschen gespenstisch jetzt.“
„Ich bin verheiratet.“

„Aha. Glückwunsch. Du, ich hab nicht viel Zeit, ich muss …“
„Nur eine Frage noch.“

„Ja, bitte.“
„Was war an Hobie toller als an mir? An dem Typen aus Wilhelmshaven.“

„Hahaha.“
„Was war toller an ihm?“

„Er hatte ein Skateboard.“

Ein Brett mit Rollen, Langeweile und die Unachtsamkeit des Einfach-so-Hinschreibens: Das waren also die drei Auslöser für meine Vertreibung aus dem Kinderparadies. Ich hätte es gern ein bisschen weniger profan gehabt. Aber wie so vieles kann man sich auch das nicht aussuchen.

Von dort aus wurden die Kränkungen fortgeschrieben, von Frauen und Männern, denen ich aus verschiedenen Gründen gern gefallen hätte, von Schwiegermüttern und -vätern, von Auftraggebern, Leserbriefschreibern, von Smalltalkpartnern und Tischnachbarn, Freunden von Freunden, die mich auf Partys stehen ließen, um sich dem Nächstinteressanteren zuzuwenden. Und ich blickte stumm in meine Sektflöte, weit außerhalb des Mittelpunkts der Welt.

Dirk Gieselmann reiste in den vergangenen Monaten durch Deutschland, um die Menschen nach ihren Ängsten zu befragen. Er ist außerdem ehemaliger Vorstopper des TuS Sankt Hülfe-Heede