Gäbe es einen Preis für den coolsten Polit-Opa der Welt, er wäre ein ganz heißer Anwärter: José Mujica, Uruguays linker Ex-Präsident, der das Land von 2010 bis 2015 regierte. Heute ist er 84, und Leute, die seine Urenkel sein könnten, bitten ihn um Autogramme. Der Regisseur Emir Kusturica drehte einen Film über ihn, Papst Franziskus nannte den bekennenden Atheisten einen „weisen Mann“, die Zeitschrift „Economist“ kürte ihn zum „Philosophen der Demokratie“. Es gibt sogar eine App mit Zitaten von Mujica, darunter Weisheiten wie „Manche verwechseln Geld mit Glück“.
Von seinem Gehalt behielt Präsident Mujica nur zehn Prozent – und spendete den Rest
Mujica klopft nicht nur Sprüche, er lebt auch danach. Sein hellblauer VW Käfer ist uralt, seine Klamotten sehen aus wie aus dem Secondhandladen, er baut sein eigenes Gemüse an und ist am Feierabend zufrieden mit einem bitteren Mate im Plastikstuhl. Konsum und Statussymbole sind nicht sein Ding, von seinem Präsidentengehalt in Höhe von 12.500 US-Dollar behielt er zehn Prozent für sich und spendete den Rest.
Warum ist Uruguay immer noch eine Ausnahme in Südamerika? Wieso geht’s vielen dort so mies, warum kippen Regierungen reihenweise von links nach rechts? Sabine Kurtenbach vom Institut für Lateinamerika-Studien weiß weiter
Seine Bodenständigkeit hat Mujica vermutlich vor Höhenflügen bewahrt, die manche seiner Amtskollegen in Lateinamerika teuer zu stehen kamen. Mujica wollte nicht in die Geschichte eingehen wie Hugo Chávez in Venezuela, der sich als Wiedergeburt des Befreiungshelden Simón Bolívar sah. Er fühlte sich auch nicht zum Erlöser der Armen berufen wie Lula da Silva in Brasilien – und Reichtümer scheffeln wie die Kirchners in Argentinien wollte er sowieso nicht.
Pepe, das ist sein Spitzname, den jeder Uruguayer kennt. Und fast jeder weiß auch, wo er wohnt: am Fuße des Cerro, eines Arbeiterviertels am Rande von Montevideo. Dort baut er Gemüse und Blumen an – auf seiner „Chacra La Puebla“. Eine Chacra ist ein kleinbäuerlicher Betrieb, weit entfernt von den Estancias, riesigen Landgütern mit enormen Rinderherden, bewacht von den Gauchos, den südamerikanischen Cowboys.
Uruguay ist ein Land des Mittelstands und der Bescheidenheit. Die rund 3,5 Millionen Menschen sind eher stolz darauf, keine Schlagzeilen zu machen, und wenn, dann höchstens im Fußball, bei dem das kleine Land zu den besten der Welt gehört. Dabei gäbe es durchaus noch andere Gründe, stolz zu sein: Uruguay ist das erste lateinamerikanische Land mit 5G-Mobilfunkstandard, der Strom kommt zu großen Teilen aus Wind- und Wasserkraftwerken – und während viele Länder Südamerikas von Korruption geplagt werden, steht Uruguay auf dem „Corruption Perception Index 2018“ von Transparency International einen Platz hinter den USA.
Früher Guerillero, heute Polit-Popstar
Dass der ehemalige Blumenzüchter Mujica den Samen dafür legte, dass Uruguay das modernste Land Südamerikas werden konnte, war erst mal nicht absehbar – sein Leben hätte auch eine andere Richtung nehmen können: Als junger Guerillero und Mitbegründer der sozialistischen Untergrundbewegung Tupamaros kämpfte Mujica gegen die Militärdiktatur. Die Stadtguerilla radikalisierte sich im Laufe der Jahre und ermordete eine Vielzahl an Polizeioffizieren. Mujica saß über 13 Jahre im Gefängnis, einige davon allein in einem Erdloch. Erst nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 kam Mujica frei und engagierte sich in der 1989 gegründeten Tupamaros-Partei Movimiento de Participación Popular (MPP), bis er Ende 2009 zum Präsidenten gewählt wurde.
Auch wenn er als solcher weltweit zum Polit-Popstar avancierte, war seine Politik in Uruguay nicht unumstritten. Mit Vorstößen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe, der Legalisierung von Abtreibung und von Marihuana machte er zwar international Schlagzeilen, bei seinen eher wertkonservativen Landsleuten war vieles davon umstritten. Umweltschützer kritisierten, dass er trotz sozialistischer Parolen unkritisch ausländische Investoren ins Land holte, die Rinderweiden in Eukalyptushaine zur Papierherstellung umwandelten. Durch die Bildungsreform von 2008 sollte erreicht werden, dass 75 Prozent der Schüler ihre schulische Laufbahn mit Erfolg abschließen, doch tun dies nur 43,4 Prozent. Das Programm zum Sozialwohnungsbau verfehlte ebenfalls das vorgegebene Ziel: Statt der angekündigten 4.000 neuen Sozialbauten wurden bis zum Ende seiner Amtszeit lediglich 1.008 errichtet.
Uruguay hat moderne Trans-Gesetze: Bürger können ohne große Hürden ihr Passgeschlecht ändern und Hormone nehmen
2015 gab Mujica die Macht ab. Uruguay wird nun von Tabaré Vázquez regiert, einem Arzt, der wie Mujica dem Mitte-links-Bündnis „Frente Amplio“ (Breite Front) angehört und nicht nur Mujicas Nachfolger ist, sondern auch sein Vorgänger war. In seiner ersten Amtszeit von 2005 bis 2010 hatte sich der Krebsspezialist mit dem Tabakkonzern Philip Morris angelegt, als er strenge Rauchergesetze auf den Weg brachte.
Uruguay hat rund 3,5 Millionen Einwohner und ist halb so groß wie Deutschland. Es gehört zu den stabilsten und reichsten Ländern Südamerikas. Fast die Hälfte der Menschen wohnt in der Hauptstadt Montevideo, eine der wenigen Großstädte.
Trotz eigener Vorbehalte setzte Vázquez Mujicas liberales Drogengesetz um und sorgte dafür, dass Uruguay heute das erste Land Lateinamerikas mit einem staatlich regulierten Marihuanamarkt ist. Im Gegensatz zu Mujica drängte Vázquez das Militär entschiedener dazu, bei der Aufklärung von Verbrechen der Militärdiktatur der 1970er- und 1980er-Jahre zu kooperieren – obwohl er selbst kein direktes Opfer war. Seit Ende vergangenen Jahres hat Uruguay zudem eines der modernsten Trans-Gesetze der Welt. Die Bürger dürfen ohne große Formalitäten im Pass ihr Geschlecht ändern, der Zugang zu Hormonbehandlungen wurde erleichtert. Einen Rückschritt hingegen gibt es bei der öffentlichen Sicherheit: 2018 stieg die Zahl der Morde um 46 Prozent auf 414.
In jedem anderen Land Lateinamerikas hätten sich zwei so unterschiedliche Charaktere wie der Bauer Mujica und der Arzt Vázquez längst überworfen, und jeder hätte wohl seine eigene Partei gegründet. In Uruguay hält das Bündnis, das von Kommunisten über Sozialdemokraten bis zu Christdemokraten reicht und insgesamt 40 Parteien und Gruppierungen umfasst, schon seit 1971. Einige von ihnen wollten Mujica sogar erneut zum Präsidenten machen. Ein Angebot, dem kaum ein Politiker widersteht. Bis auf Mujica. Es sei jetzt endgültig Zeit für andere, Jüngere, befand er, bescheiden wie immer.
Illustration: Yannick de la Pêche