Ulrike ist unsicher. Unsicher, ob sie ihre Erfahrungen in Worte fassen soll. „Wenn ich sage, was ich mittlerweile denke, halten mich sowieso alle für eine Rechtsradikale.“ Und rechtsradikal, das will Ulrike nicht sein, sie war es nie. Die 42-jährige Floristin hat immer links gewählt: „Erst die Grünen und, nachdem die auch für Kriege waren, die Linke.“ Eine rechte Partei wie die AfD zu wählen, sei für sie undenkbar. So was sei für sie ein Tabu, das sie nicht brechen werde. Aber Ulrike wohnt in der Dortmunder Nordstadt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, der Ausländeranteil auch. Die Polizei stemmt sich gegen die Kriminalität in dem Viertel, verfolgt Einbrecher und Drogenhändler. Mal schafft sie es, die Verbrecher zurückzudrängen, mal nicht. Es ist ein ewiger Kampf mit offenem Ausgang.

Was Ulrike stört, ist, dass sie über das, was sie erlebt, nicht reden kann

Aber auch das ist die Nordstadt: Nirgendwo im Ruhrgebiet bekommt man so schöne Altbauwohnungen so günstig wie hier. Läge die Nordstadt in München, Köln oder Berlin, würde sie zu den teuersten und angesagtesten Stadtteilen gehören: Viele renovierte Gründerzeithäuser, Parks, Galerien, Szenekneipen, und der Hauptbahnhof ist in ein paar Minuten zu erreichen. Genau wegen dieser Vorteile und der früher einmal ganz besonderen Atmosphäre ist Ulrike hierhergezogen. Aber die Zeiten, in denen es ihr hier gefiel, sind vorbei: „Als Frau ist es nicht mehr möglich, die Straße langzugehen, ohne dass einem hinterhergerufen oder hinterhergepfiffen wird. Wenn ich die Schützenstraße entlanggehe, ist das mittlerweile ein Spießrutenlauf.“

Ruhrpott

Frau läuft an einen Briefkasten vorbei (Foto: Christian Werner)

Alles andere als schön: Eine Straße nicht mehr entlang gehen zu können, ohne dass einem hinterher gepfiffen wird

(Foto: Christian Werner)

Als die Bulgaren in das Viertel, in dem immer schon viele Zuwanderer gewohnt haben, gezogen seien, sei es unangenehm geworden. „Aber seitdem die Araber hier sind, ist es fast unerträglich.“ Was Ulrike stört, ist, dass sie über das, was sie erlebt, nicht reden kann, dass sich SPD, Grüne und Linke nicht für diese Wirklichkeit interessieren. „Die wollen das nicht hören, weil es nicht in ihr Weltbild passt und sie Angst haben, sie würden die Rechten stärken, wenn über diese Probleme gesprochen wird. Aber das ist Unsinn. Es stärkt die Rechten, wenn nicht offen über diese Probleme gesprochen wird.“ Viele Politiker würden, sagt sie, von ihrem Alltag in der Nordstadt ohnehin nichts mitbekommen. „Die meisten von denen leben doch gar nicht in so einfachen Stadtteilen. Wo die leben, gibt es solche Probleme doch gar nicht.“

Ruhrgebiet im Wandel
Mit der Bergbaukrise setzte im Ruhrgebiet Ende der 1950er-Jahre der Strukturwandel ein. Nach und nach schlossen die Zechen, zurzeit ist nur noch eine in Betrieb – und auch die soll Ende 2018 schließen. Seit Beginn der 80er-Jahre sind im Ruhrgebiet gut eine Million Arbeitsplätze im Bergbau, der Stahlindustrie und in anderen Industriebereichen verloren gegangen. Nur 300.000 – zumeist schlechter bezahlte Dienstleistungsjobs – konnten neu geschaffen werden. Zu Beginn der Krise wollten sich zahlreiche Unternehmen im Ruhrgebiet ansiedeln, weil sie hier gut ausgebildete Arbeitnehmer vorfanden, doch das wurde von den Bergbauunternehmen im Verbund mit der Politik und den Gewerkschaften oft verhindert: VW, Ford oder das Chemieunternehmen Schering wurden an der Ansiedlung gehindert, weil sie keine Grundstücke bekamen: Sie waren Opfer der Bodensperre. Die alten Ruhrgebietskonzerne gaben auch Flächen, die sie nicht mehr benötigten, nicht frei. Sie wollten verhindern, dass ihre Mitarbeiter zu attraktiveren Arbeitgebern wechseln...

Felix sieht das ein wenig anders. Er wohnt in Herne. Ruhrgebiet pur. Szenekneipen und Galerien gibt es erst wieder in Bochum. In Herne lebt man nicht, hier wohnt man. „In meinem Viertel leben auch viele Ausländer, aber ich habe mit ihnen keine Probleme. Ich bin mit Türken aufgewachsen und habe türkische Freunde.“ Als Frau, räumt Felix ein, sehe das anders aus: „Meine Freundin sagte mir immer, dass es unangenehm für sie sei, an einem Flüchtlingsheim entlangzugehen. Ich dachte, sie würde spinnen, bis sie mich einmal anrief, als sie dort vorbeikam. Ich habe die Männer rufen und johlen gehört. So was geht nicht.“ Aber in seinem Viertel in Herne sei das Problem an einem Ort konzentriert. In der Nordstadt ist der Spießrutenlauf für Frauen fast im ganzen Viertel Alltag.

Felix kennt viele Menschen, die arbeiten gehen, aber von ihrem Einkommen trotzdem nicht leben können

Seitdem Felix einen Job in einem Industriebetrieb hat, sagt er, gehe es ihm wirtschaftlich gut: „Ich war erst im Handwerk, da habe ich nicht viel verdient. Ich wollte da weg, machte meinen Meister, und jetzt habe ich eine sichere und gut bezahlte Arbeit.“ Zwischendurch lief es für ihn nicht gut, er war arbeitslos und bekam Hartz IV: „Klar, man kann von Hartz IV eine Zeit lang leben, aber es ist hart. Man fühlt sich so, als ob man bestraft wird.“ Ihn stört, dass viele Menschen, die er kennt, arbeiten gehen, aber von ihrem Einkommen trotzdem nicht leben können. „Wenn man den ganzen Tag arbeiten geht, muss man mehr bekommen, als man zum Überleben braucht. Alles andere ist ungerecht. Ich seh ja, wie das bei den Leiharbeitern bei uns im Betrieb ist. Die machen dieselbe Arbeit wie ich und bekommen dafür viel weniger Geld. Jemand, der arbeiten geht, darf nicht mehr auf Hartz IV angewiesen sein.“ 

Industriegebiet im Ruhrpott (Foto: Christian Werner)

Teile des Ruhrgebietes, in denen es früher aus allen Schloten rauchte, pfeifen heute aus dem letzten Loch

(Foto: Christian Werner)

Den Mindestlohn findet er gut, aber er ist ihm zu gering: „Damit hält man doch nur den Kopf knapp über Wasser.“ Felix fühlt sich als Teil der Arbeiterklasse, und er ist stolz darauf: „Ich wollte immer mit meinen Händen arbeiten und etwas schaffen.“ Die Arbeiter sind für ihn die Basis der Gesellschaft, sind die, ohne die nichts läuft. Er ist auf ruhige und gelassene Art selbstbewusst, jemand, der weiß, was er kann. Aber die SPD, die große, traditionelle Arbeiterpartei des Ruhrgebiets, sieht er nicht mehr als die Vertreterin seiner Interessen: „Die interessieren sich nicht mehr für Leute wie mich.“ Und Leute wie er, ergänzt Felix, würden sich nicht mehr für die SPD interessieren. „Die Alten, die zufrieden sind, wenn sie einmal im Jahr auf einem SPD-Sommerfest eine Bratwurst geschenkt bekommen, wählen die noch.“ Alle anderen, und das seien die meisten, mit denen er in seinem Betrieb und in der Nachbarschaft spricht, hätten das nicht mehr vor. „Viele werden AfD wählen. Warum sie das tun wollen, können sie meistens nicht erklären. Aber sie sind unzufrieden.“

Er sei stolz darauf, ein guter Handwerker zu sein, sagt Sebastian. Aber das zähle immer weniger

Unzufrieden wie sein Freund Sebastian, der als Elektriker auf dem Bau arbeitet: „Ich bin nicht stolz darauf, Deutscher zu sein, das ist mir egal. Aber ich bin stolz darauf, ein guter Handwerker zu sein.“ Aber das zähle immer weniger. „Auf dem Bau kommen die Kolonnen aus Polen. Das meiste, was die machen, ist Schrott, aber es ist billiger, die den Schrott machen zu lassen und uns die Nacharbeiten zu geben. Das ist nicht in Ordnung, das geht auf Kosten der guten Handwerker.“ Vieles, was Felix aus seinem Betrieb kennt, gebe es im Handwerk nicht: „Wir haben keinen Betriebsrat, und wer den Mund aufmacht, fliegt raus. Wenn mein Chef vor dem Arbeitsgericht verliert, ist ihm das egal. Dann zahlt er eben.“ Ja, all die Gesetze, die Arbeiter wie ihn schützen sollen, kenne er. „Aber es gibt sie bei uns im Betrieb nicht. Für uns stehen die nur auf dem Papier.“

ich habe kein vertrauen mehr

Ein Mann läuft auf einer leeren Strasse (Foto: Christian Werner)

Grau war es im Pott schon immer. Aber mit der Dauerkrise wurde es für viele auch immer trostloser

(Foto: Christian Werner)

... Doch die Bodensperre funktionierte nicht immer: Ob Opel in Bochum, die Telefonwerke von Siemens in Witten, Gladbeck und Kamp-Lintfort oder der TV-Hersteller Graetz in Bochum, der später von Nokia übernommen wurde: Es gab große Unternehmen, die sich ab den 60er-Jahren im Ruhrgebiet ansiedelten. Doch keines von ihnen hat überlebt. Erfolgreich sind heute vor allem mittelständische Unternehmen. Durch die Energiewende sind weitere wichtige Arbeitgeber wie RWE, Steag oder Unternehmen aus dem Kraftwerksbau unter Druck geraten. Mit 10,5 Prozent liegt die Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet heute deutlich über der von 6,3 Prozent bundesweit. Die Dauerkrise ist dem Ruhrgebiet anzumerken: Viele Städte machen einen vergleichsweise verwahrlosten Eindruck, junge Menschen ziehen fort, vor allem nach dem Besuch der Unis. Von 5,7 Millionen im Jahr 1967 ist die Zahl der im Ruhrgebiet lebenden Menschen heute auf 5,1 Millionen zurückgegangen.

Das ist bei Simon anders. Er arbeitet wie Felix in einem Industriebetrieb. Arbeitsschutz, Betriebsrat – das alles sei gut geregelt. Mit seinem Geld kommt er gut aus. Sorgen macht ihm seine 19-jährige Stieftochter: „Sie ist zum Islam übergetreten.“ Dass sie kein Schweinefleisch mehr isst, ist Simon egal. Dass sie dafür ist, Dieben die Hand abzuhacken, nicht. „Das ist barbarisch.“ Auch er hat türkische Freunde, die seien aber nicht so radikal wie seine Stieftochter. Er diskutiert viel mit ihr, aber er dringt nicht mehr zu ihr durch. „Ich hoffe, das legt sich wieder. Sie ist kein schlechtes Mädchen“, sagt Simon, und man spürt seine Angst um das Kind.

Der Staat, so ist Simon überzeugt, wolle die Menschen bevormunden und die Medien würden ihm dabei helfen

Simon ist neugierig und interessiert sich für Politik. Die Angebote der klassischen Verlage und das öffentlich-rechtliche Fernsehen meidet er. „Ich habe in die alle kein Vertrauen mehr.“ Er informiert sich online, wo, mag er nicht sagen, aber es gäbe so viele Informationen zu entdecken, die man früher nie bekommen hätte. Der Staat, sagt er, wolle die Menschen bevormunden und die Medien würden ihm dabei helfen. „Ich bin Nichtraucher, aber was geht es den Staat an, ob jemand raucht oder nicht? Die sollen die Menschen einfach mal in Ruhe lassen und aufhören, sie zu erziehen.“ Viele hätten Angst zu sagen, was sie denken, weil sie wüssten, dass sie als Nazis beschimpft würden. „Wenn ich sage, dass jemand, der in ein anderes Land kommt, sich an dessen Regeln zu halten hat, hat das nichts mit Nazis zu tun. Ich will doch niemanden umbringen. Aber ich will nicht, dass sich dieses Land in Richtung Arabien entwickelt.“ Und klar, wer kriminell wird, solle gehen.

Wen er wählen wird bei der Landtagswahl in NRW im Mai und der Bundestagswahl im Oktober, will er auch nicht sagen. Aber er wisse, dass viele seiner Kollegen die AfD wählen werden: „Die glauben alle nicht, dass die AfD es besser machen wird. Aber sie haben das Gefühl, dass die AfD Klartext redet.“ Außerdem bräuchten die großen Parteien einen Warnschuss. Und dieser Warnschuss, da ist er sich sicher, sei für viele die Wahl der AfD.

Titelbild: Christian Werner