Jede Stadtgründung erzählt nicht nur eine Geschichte über die Zeit und das Land, sondern auch über die Träume, die mit ihr verbunden waren. Manche Städte entstanden an Häfen oder Flussübergängen, weil Mühlen, Gerbereien und Kraftwerke Wasser brauchten. Einige wurden am Reißbrett entworfen, aus einer Laune von Architekten, Politikern oder Monarchen. Und andere Städte entwickelten sich aus Arbeitersiedlungen oder königlichen Residenzen. Hierzu im Folgenden vier berühmte Beispiele.
Leverkusen: Da stimmte die Chemie
Es gibt Städte, die sind nach Königen benannt, andere wiederum nach Kaisern. Und eine Stadt verdankt ihren Namen einem Apotheker: Leverkusen. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts standen auf dem Gebiet der heutigen Stadt nur ein paar Dörfer mit insgesamt kaum mehr als 1500 Einwohnern. Dann kam Carl Leverkus, ein Apothekersohn mit elf Kindern, und zog hier im Jahr 1860 eine Chemiefarbenfabrik hoch. Seine damals 78 Angestellten stellten u.a. „Ultramarinblau“ künstlich her, einen begehrten und teuren Farbstoff, mit dem man nicht nur färben, sondern auch bleichen konnte. Die Nähe zum Rhein ersparte ihm Transportkosten.
In einer Zeit, in der es noch keine Sozialversicherung gab, wollte Carl Leverkus seiner Belegschaft ein würdiges Leben ermöglichen. Die Arbeitersiedlung um die Fabrik – mit Werksfeuerwehr, Musikkapelle, Kasino und Privatschule – benannte Leverkus nach dem Stammsitz seiner Familie „Leverkusen“. Im Jahr 1930 schlossen sich dann mehrere Gemeinden des Umlands unter diesem Namen zusammen: Das war die Gründung der heutigen Stadt Leverkusen. Die alten Fabrikanlagen von Leverkus übernahm übrigens später die Firma eines gewissen Herrn Bayer. Der Fußballverein Bayer Leverkusen ist also, streng genommen, nach zwei Chemie-Unternehmern benannt.
Jerusalem: Eine Stadt wie ein Sedimentgestein
Drei Meter Mauerwerk, das sind in Jerusalem mindestens 2000 Jahre. Wer durch den jüdischen Teil der Altstadt zur Klagemauer geht, erblickt kurz zuvor auf der linken Seite die antike römische Hauptstraße: drei Meter unter dem Niveau des jetzigen Weges, heute in einer Art Gewölbe. Darüber und daneben haben sich die Zeitläufte abgelagert: die Ruinen zerstörter Häuser, das getrocknete Blut vieler Schlachten, der Müll von Millionen Pilgern, die hier einst auf den Spuren Abrahams, Christi oder Mohammeds entlangzogen. 52 Mal attackierten Soldaten die Heilige Stadt, 44 Mal wurde sie belagert, 23 Mal erobert.
Jeder Meter Aushub ist Geschichte, jede Grabung ein politischer Akt. Vermutlich siedelten hier schon vor 7000 Jahren Menschen; Keramikscherben aus dieser Zeit lassen darauf schließen. Seit der judäische König David die Stadt etwa 1000 v.Chr. zu seinem Regierungssitz machte, diente Jerusalem als religiöses Zentrum – und wurde dies im Laufe der Jahre auch für andere Religionen. Wer danach auch immer kam, ob mit dem Schwert oder mit Gastgeschenken, hinterließ hier Spuren: Der römische Statthalter Herodes, ein jüdischer Konvertit, schuf zwischen 10 und 20 v.Chr. das Fundament des Tempelbergs, wie es noch heute existiert. Der osmanische Sultan Süleyman der Prächtige, ein Muslim, errichtete die Stadtmauer (1532–1542). Der deutsche Kaiser Wilhelm II., ein Protestant, weihte 1898 die Erlöserkirche ein.
Allein auf dem Hochplateau des Tempelbergs, einem Geviert von gerade mal 500 mal 300 Metern, befanden bzw. befinden sich am selben Ort zwei jüdische und ein heidnisch-römischer Tempel, eine Kreuzfahrerkirche sowie ein islamischer Schrein: der Felsendom. Und so ist Jerusalem nach wie vor das Zentrum zahlreicher religiöser und politischer Konflikte.
Brasília: Wohnen nach Zahlen
Aus der Luft betrachtet sieht Brasília futuristisch aus: Ihr Grundriss ähnelt dem eines Flugzeugs. Und auch am Boden erscheint sie noch heute zukunftsweisend: Brasília, die Hauptstadt Brasiliens, ist Beton gewordener Fortschrittsglaube. Als der Stadtplaner und Architekt Lúcio Costa 1956 seinen kühnen Plan veröffentlichte, begann das wohl größte städtebauliche Experiment des 20. Jahrhunderts. Denn Brasília, eine neu zu schaffende Metropole mit bis zu 500.000 Einwohnern, sollte nicht nur Haupt-, sondern eine Idealstadt werden: ohne Verbrechen, Slums und Stau.
Das wirtschaftliche Leben des Landes konzentrierte sich damals auf den Großraum Rio de Janeiro. Brasília, fernab der großen Zentren gelegen und rund 950 Kilometer Luftlinie von der Küste entfernt, sollte die Hochebenen im Landesinneren erschließen helfen. Als die Arbeiten begannen, gab es nicht einmal Straßen zu den Baustellen, so abgeschieden war der Ort. Baumaterial musste eingeflogen werden. Dreieinhalb Jahre lang bauten Arbeiter an den Gebäuden, von denen viele der Architekt Oscar Niemeyer entwarf: etwa das Parlamentsgebäude aus zwei riesigen Kuppeln, die eine mit der offenen Seite nach unten, die andere wie eine Schüssel auf dem Boden stehend.
Lúcio Costa und Oscar Niemeyer folgten der Idee des „Modernismus“, d.h. einer Strömung, als deren Gründer der Schweizer Architektur-Visionär Le Corbusier gilt: Arbeit, Wohnen, Fortbewegung – alles wurde streng durchgeplant und geregelt. Die 90 Wohngebiete etwa heißen „super-quadras“, 260 mal 260 Meter für je 3000 Einwohner. Fluktuation und organisches Wachstum waren nicht vorgesehen. Urbane Wüste, urteilen heute die einen; eine visionäre Lösung, entgegnen die anderen.
In Brasília wohnen heute rund 3.000.000 Menschen, viele von ihnen Beamte. Pro Kopf verdienen die Einwohner dreimal so viel wie die Bevölkerung im Rest des Landes. Eine große Anzahl von Menschen hat sich jedoch in den Satellitenstädten niedergelassen, die ringsum entstanden, also dort, wo einst die Arbeiter schliefen, die die Stadt errichtet hatten. Und hier gibt es eben doch Armut, sogar einige Favelas, informelle Siedlungen aus oft notdürftig zusammengezimmerten Behausungen. Der Traum von der Idealstadt Brasília hat sich also nicht zur Gänze erfüllt. Doch zum Weltkulturerbe taugt sie.
Washington, DC: Herrschaft zum Quadrat
Vereinigt waren die Staaten seit 1776 – aber einig waren sie sich in vielem nicht. Auch die Frage nach der künftigen Hauptstadt entzweite die junge Nation: Princeton? New York? Oder doch Philadelphia? Am Ende entschied der Kongress umsichtig: Eine neue Stadt sollte gegründet werden, weder zu den Nord- noch zu den Südstaaten gehörig, unabhängig vom Einfluss beider Machtsphären. Den genauen Standort durfte George Washington wählen, der erste Präsident. Ein Quadrat von 10 mal 10 Meilen schnitt er aus den Staaten Maryland und Virginia heraus. „Bundesstadt“ nannte er sie vorerst, bis eine Kommission vorschlug, sie nach ihm zu benennen. Der Beiname „District of Columbia“, nach der weiblichen Form von (Christoph) Kolumbus, war eine Anspielung auf den poetischen Namen Amerikas.
Der Franzose Pierre Charles L‘Enfant entwarf den Grundriss, Versailles nahm er sich zum Vorbild. Auch stadtplanerisch sollte die Hauptstadt ihren Machtanspruch verkörpern. In ihrem Zentrum befindet sich die Zentrale der Macht: der heutige Capitol Hill. Die Freiflächen um das Kapitol und das Weiße Haus bildeten die zwei Zentralachsen, um deren Kreuzung die Stadt gruppiert wurde. 1801 war der Umzug der Regierung von Philadelphia nach Washington abgeschlossen. Viele ehemalige Sklaven flohen in den nächsten Jahrzehnten aus den Südstaaten dorthin.
Seit ihren Anfängen ist Washington deshalb eine beliebte Stadt für Afroamerikaner und hatte zeitweise sogar eine dunkelhäutige Bevölkerungsmehrheit. Im Regierungsviertel indessen wohnten bis in die 1960er Jahre hinein fast nur europäischstämmige Menschen – Macht war schließlich lange den Hellhäutigen vorbehalten. Die Aufteilung der Stadt in Viertel, die entweder stark durch Afroamerikaner oder durch Weiße geprägt sind, hat sich bis heute erhalten. Kaum eine andere amerikanische Stadt ist so segregiert wie Washington, DC.
Heute ist die Stadt kein Quadrat der Macht mehr: Das von Virginia geborgte Gebiet wurde 1864 zurückgegeben. Der Präsident residiert aber weiterhin in jenem Teil der Stadt, der einst zu Maryland gehörte. Die Nähe zur Macht brachte den Bewohnern der Stadt allerdings keine Vorteile: Bis 1964 durften sie sich an den Präsidentschaftswahlen nicht beteiligen, und bis heute entsendet der District of Columbia keine stimmberechtigten Abgeordneten in den US-Senat oder das Repräsentantenhaus.
Die abgeblideten Skulpturen stammen von der Chinesin Yin Xiuzhen, die zu den bedeutendsten Künstlerinnen ihres Landes gehört. Für ihre Serie Portable City sammelt Yin Xiuzhen Kleider von Stadtbewohnern und modelliert daraus in aufwändiger Handarbeit ein Model der Stadt im Inneren eines Koffers.