Spätestens in der neunten Klasse begann das Flüstern. Wer sie bereits nimmt. Ob sie dick macht oder vielleicht sogar dünn. Dass mit ihr die Pickel verschwinden und die Haare glänzen. Dass sie die Menstruation mildert. Auch der Gedanke an Sex schwingt schon mit. Aber eher abstrakt. Wer sie nimmt, könnte bereits Sex haben. Muss aber nicht. Schließlich nimmt man sie ja auch, um den Zyklus zu „regulieren“ und die Haut „in den Griff“ zu kriegen. Die Pille. Kein Mensch würde an dieser Stelle fragen, welche. Die Pille ist ein Meilenstein, historisch und individuell. An den Tag, an dem ich zum ersten Mal eine aus dem bunten Blister drückte, kann ich mich noch ganz genau erinnern. An mein erstes Mal drei Jahre später auch. Ich bekam die Pille aber bereits mit 15, weil ich darauf bestand.
Die Insignie der Weiblichkeit?
Klar war, dass man erst in dem Moment, wo man sie nahm, eine echte Frau, ja einen Tick näher am Erwachsensein war, also Sex haben konnte. Die, die sie als Erste hatten, gaben ordentlich damit an. Einige schleppten sie im Federmäppchen mit sich herum, andere bewahrten sie im Zahnputzbecher auf. Sie war wie Labello Rosé und Mascara – ein Teil unserer Identität –, und wer sie noch nicht hatte, bequatschte die Eltern oder nahm sie ab 15 heimlich. „Ich will die Pille“, sagten wir dann zu unserem Frauenarzt.
Von nun an würden wir nicht bloß schönere Haut bekommen, sondern auch unsere Fruchtbarkeit und damit die zukünftige Karriere und das Leben überhaupt im Griff haben
Der stellte ein paar Fragen, machte eine Untersuchung, und Minuten später konnten wir diese Insignie der Weiblichkeit nach Hause tragen, während wir uns gleichzeitig in dem Bewusstsein sonnten, eine extrem erwachsene Entscheidung getroffen zu haben: Denn von nun an würden wir nicht bloß schönere Haut bekommen, sondern auch unsere Fruchtbarkeit und damit die zukünftige Karriere und das Leben überhaupt im Griff haben. Heute sind es im Alter von 15 bereits 20 Prozent der Mädchen, die täglich Hormone einnehmen, mit 16 bereits 40 Prozent, und schon mit 19 nehmen mehr als 70 Prozent aller jungen Frauen die Pille. Die Entscheidung ist damals wie heute sehr leicht, das Schwierigste daran, wenn überhaupt, der Gang zum Frauenarzt.
Dass die in der Pille enthaltenen Hormone nicht wie gut dressierte Brieftauben in unsere Gebärmutter fliegen und dort ihre empfängnisverhütende Wirkung entfalten, sondern an einer Vielzahl von Rezeptoren in unserem Körper, ja auch in unserem Gehirn wirken, das wissen die wenigsten von uns in diesem Moment. Auch dass die Pille unseren Zyklus nicht „reguliert“, sondern den Eisprung und damit den Zyklus an sich unterbindet, ist den wenigsten bewusst, schließlich kriegen wir doch „regelmäßig“ unsere Tage. Wer nicht die endlose Packungsbeilage liest, weiß auch nicht, dass sie negative Effekte auf unsere Psyche und unser seelisches Wohlbefinden haben kann. Dabei ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass die Hormongabe einige Frauen sogar depressiv, ängstlich und unsicher macht. Auch davon, dass sie laut umfangreichen Studien unsere Libido negativ beeinflussen kann, sprechen Frauenärzte nur sehr selten, und das erhöhte Risiko für Embolien und Thrombosen wird in den meisten Fällen bloß im Vorübergehen erwähnt.
Die Pille bedeutete einst Selbstbestimmung. Das hat sich ein wenig geändert
Wie kommt es zustande, dass wir sie trotz dieser Risiken dennoch mit einer solchen Selbstverständlichkeit verschrieben bekommen? Nun, die Pille gilt noch immer als ein Meilenstein der sexuellen Befreiung, was vor allen Dingen auch damit zu tun hat, dass sie aus einer sagenumwobenen Allianz zwischen einer US-amerikanischen Feministin und der Pharmaindustrie hervorging.
Margaret Sanger engagierte sich bereits im frühen 20. Jahrhundert für mehr Wissen zum Thema Verhütung, um Frauen ein selbstbestimmtes Leben ohne ungewollte Schwangerschaften zu ermöglichen. Das war revolutionär und brachte sie sogar ins Gefängnis, denn sexuell aufgeklärte, selbstbestimmte Frauen waren vor rund 100 Jahren gesellschaftlich unerwünscht.
Aufklärung war damals ein unheimlich zähes Geschäft und Sanger im Jahr 1950 dermaßen frustriert über die mageren Früchte ihrer Arbeit, dass sie sofort ihre Chance ergriff, als sie dem Biologen Gregory Pincus begegnete, der bereits seit Jahren die Einsatzmöglichkeiten künstlicher Sexualhormone erforschte. Eine Pille gegen die Schwangerschaft. Ein revolutionärer Gedanke! Dank Katharine McCormick, einer wohlhabenden Frauenrechtlerin und Freundin von Sanger, die gut zwei Millionen Dollar ihres Privatvermögens investierte, wurde schließlich die erste Pille entwickelt – ein Wunschkind sozusagen aus der Zweckehe von Feminismus und Pharmaindustrie.
Ein unvergleichlicher Siegeszug
Obwohl die Menschen bei ihrer Markteinführung in den 1960ern bereits die Wahl zwischen Kondom, Diaphragma und Spirale hatten und schon damals auch ohne die Pille kaum jemand hätte schwanger werden müssen, schlug sie ein wie eine Bombe. Zwar wurde sie zunächst wegen Menstruationsbeschwerden verschrieben – und das auch nur an verheiratete Frauen mit mehreren Kindern –, aber man wusste um ihre empfängnisverhütende Wirkung. Neben ihrer Wirksamkeit bestand das wahrscheinlich überzeugendste Argument für die Pille darin, dass man über Verhütung nun nicht mehr sprechen musste, weder mit dem Partner noch mit dem Apotheker, dessen missbilligender Gesichtsausdruck unverheirateten Paaren damals die Schamesröte ins Gesicht trieb.
Der weiblichen Körper gilt immer noch als Hindernis im Leben, das uns vollkommen unberechenbar immer dann einen Strich durch die Rechnung macht, wenn wir es am wenigsten gebrauchen können
Heute leben wir in einer Welt, in der die Verbreitung von Verhütungswissen nicht mehr unter Strafe steht. Auch das Gespräch darüber müsste nicht mehr hochnotpeinlich sein. Sexualität ist allgegenwärtig, in der Werbung etwa oder im Internet. Trotzdem ist unser Wissen über Verhütung noch immer extrem lückenhaft. So erleben auch junge Mädchen von heute eine Schwangerschaft als vollkommen unberechenbares Schreckgespenst, das jederzeit über sie hereinbrechen kann. Weil nicht alle wissen, wie der weibliche Zyklus funktioniert, sind sich die wenigsten darüber im Klaren, dass ohne Pille nur an rund sieben Tagen des Monats überhaupt das Risiko besteht, schwanger zu werden. Wieso glauben wir dennoch, ohne sie nicht sicher verhüten zu können?
Die Tatsache, dass wir sie beim Arzt beziehungsweise in der Apotheke erhalten, täuscht über eine wesentliche Erkenntnis hinweg: Die Pille ist ein Produkt und die Pharmaindustrie wie alle Industrien in allererster Linie gewinnorientiert. Seit Jahrzehnten tut sie alles dafür, dass wir die Pille als notwendiges Instrument der Befreiung betrachten, und je weniger wir es zur Befreiung brauchen, umso vehementer erklärt sie uns, dass der weibliche Körper ohne hormonelle Eingriffe eine einzige Last darstellt. Besuchen wir die Webseiten, lesen wir von PMS, „schlechter“ Haut, Regelbeschwerden und einem „unregelmäßigen“ Zyklus als gute Gründe für hormonelle Verhütung. All das fügt sich in einen öffentlichen Diskurs, der einen weiblichen Körper immer noch als Hindernis im Leben begreift, das uns vollkommen unberechenbar immer dann einen Strich durch die Rechnung macht, wenn wir es am wenigsten gebrauchen können.
Viele andere Verhütungsmittel sind genauso zuverlässig wie die Pille – oder sogar noch viel sicherer
Auch deutsche Ärzte, deren Fortbildungen vielfach von der Pharmaindustrie ausgerichtet und finanziert werden, greifen diese Argumente auf, statt uns über die Vielzahl an Methoden aufzuklären, die uns als Frauen des 21. Jahrhunderts zur Verfügung stehen. Dazu gehören ganz wesentlich die Kupferspirale, Kondome und Diaphragmen, aber auch die symptothermale Methode, auch als NFP bekannt, die neben der Körpertemperatur auch den sogenannten Zervixschleim beobachtet.
So kann man mit NFP sowohl den Beginn als auch das Ende der fruchtbaren Phase bestimmen, was diese Methode laut aktuellen wissenschaftlichen Studien etwa so sicher wie die Pille macht: Ihr Pearl-Index, der die Sicherheit des Verhütungsmittels angibt, liegt bei 0,4. Das heißt, von 100 Frauen werden im Lauf eines Jahres bei Anwendung dieser Methode 0,4 schwanger. Auch die Sicherheit von Kondomen ist weitaus höher als bisher angenommen.
Überhaupt wird jede Form der Verhütung immer dann sicherer, wenn wir offen mit unserem Partner und dem Arzt unseres Vertrauens umgehen – genauso wie mit dem eigenen Körper. Es geht eben bei Verhütung nicht darum, was eine einzelne Person macht, egal ob Frau oder Mann, sondern wie ein Paar das gemeinsam geregelt bekommt. Dass die Vollendung von Margaret Sangers Lebensaufgabe darin bestand, die Antibabypille auf den Weg zu bringen, sollte uns nicht darüber hinwegsehen lassen, dass sie von einer viel wesentlicheren Überzeugung getrieben war: Frauen sollten im Angesicht aller Möglichkeiten und unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen über den eigenen Körper bestimmen dürfen.
Tilelbild: Laura Zalenga