Ja! Denn die Folgen der Erderhitzung sind noch viel schlimmer als die Risiken der Atomenergie
sagt Silke Mertins
Ist die Nutzung von Atomkraft ein Risiko? Natürlich, niemand würde das ernsthaft bestreiten. In den 1980er-Jahren wurde eine nukleare Kernschmelze von vielen Menschen zu Recht als das Schlimmste angesehen, was jenseits eines Atomkriegs passieren kann. Doch angesichts der überall bereits spürbaren Klimakrise sind wir heute in einer völlig anderen Situation. Auch ohne die von Russland ausgelöste Energiekrise und den Krieg in der Ukraine ist der schnelle Ausstieg aus der Atomkraft ein Fehler.
Zehntausende sterben durch den Klimawandel, schon jetzt
Ganze Regionen werden bis Mitte des Jahrtausends unbewohnbar werden. Der Nahe Osten, Teile des Mittleren Ostens und der östliche Mittelmeerraum erwärmen sich beispielsweise doppelt so schnell wie der Rest der Welt. In Südasien ist man mit den Temperaturen des Sommers 2022 – verbunden mit hoher Luftfeuchtigkeit – bereits nahe an den tödlichen Bereich herangekommen, sagen Klimaforscher. Sogar in Deutschland geht man von mehreren Tausend hitzebedingten Todesfällen allein im Juli 2022 aus.
Angesichts des Klimawandels muss das Risiko Atomkraft neu abgewogen werden. Bei nuklearen Anlagen ist eine Katastrophe möglich, keine Frage, beim Klimawandel ist die Katastrophe aber längst da – und zwar in einem ganz anderen Ausmaß als die kontaminierten Gebiete rund um Fukushima oder Tschernobyl. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Die Folgen eines Atomunfalls sind in unserer Wahrnehmung viel größer, als sie tatsächlich sind.
Erneuerbare Energien können den Strombedarf noch lange nicht decken
Beim Reaktorunglück in Fukushima gab es unmittelbar keinen einzigen Toten. Keinen! Selbst wenn man alle späteren krebsbedingten Todesfälle und jene durch die jahrelange Zwangsevakuierung dazuzählt, kommt man je nach Schätzung auf einige Tausend Opfer. Der Verlust jedes einzelnen Menschen ist schlimm, doch bei der Erderwärmung haben wir es mit ganz anderen Dimensionen zu tun.
Eine Arbeitsgruppe des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC geht Anfang 2022 davon aus, dass schon jetzt die Hälfte der Menschheit hochgradig gefährdet ist. Allein bei dem einen Extremwetterereignis 2021 im Ahrtal kamen über 180 Menschen ums Leben. Zehntausende sind es schon jetzt weltweit. Der Klimawandel ist bedrohlicher für die Menschheit als die Gefahren der Atomkraft. Und das spricht ganz grundsätzlich für AKWs und ihren vergleichsweise geringen CO2-Ausstoß.
Auch klimaneutrale Wirtschaft braucht Energie
Atomkraftgegner*innen führen oft ins Feld, dass doch Wind und Sonne im ersten Halbjahr 2022 schon knapp die Hälfte des Stromverbrauchs in Deutschland deckten. Dabei wird gerne unter den Tisch gekehrt, dass der Strombedarf wegen des klimaneutralen Umbaus der Wirtschaft stark ansteigen wird. Mehr E-Autos, mehr Wärmepumpen und mehr grüner Wasserstoff – schon dafür werden weit über 100 Terrawattstunden mehr Strom pro Jahr benötigt. Allein die Chemieindustrie braucht nach eigenen Berechnungen 2050 mehr Strom als heute ganz Deutschland.
Selbst wenn Bundesklimaschutzminister Robert Habeck ein Jahr lang jeden Tag einen neuen Windpark à drei Windanlagen einweiht, reicht die Strommenge nicht für das Industrieland Deutschland – insbesondere dann nicht, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, zum Beispiel bei einer Flaute in der dunklen Jahreszeit. Solange grüne Energie nicht effektiv, komplikationslos und ausreichend gespeichert werden kann, reicht sie für den wachsenden Bedarf schlicht nicht aus.
Ein Atommüll-Endlager muss ohnehin gebaut werden – egal, wie viel anfällt
Und der Atommüll? Es stimmt, ein Endlager fehlt in Deutschland nach wie vor. Doch das bedeutet nicht, dass keines gebaut werden kann. Es wird ohnehin für den bereits entstandenen Atommüll notwendig. Und der Müll aus AKWs ist mengenmäßig nicht so groß, als dass man nicht mit einem Endlager auskommen würde. Als schlagkräftiges Gegenargument taugt der Atommüll daher nicht.
Der Weltklimabericht führt in seinen diversen Szenarien immer auch die Atomkraft als Teil eines glimpflichen Verlaufs an. Eine wachsende Zahl von Klimaforschern macht sich für Nuklearanlagen stark – allein schon, um Zeit zu gewinnen für den Ausbau von Erneuerbaren. Die Grünen in Finnland befürworten mittlerweile die Atomkraft. Sogar in den Ländern, die wie Japan und die Ukraine selbst einen atomaren GAU erlebt haben, sind nicht aus der Atomkraft ausgestiegen. Sind etwa alle blind und nur wir Deutschen sehend?
Auch immer mehr Klimaforscher machen sich für Atomenergie stark
Auch hierzulande wird dringend mehr Zeit benötigt. Bei der Energiewende ist in den Jahren der Großen Koalition ein dramatischer Rückstand entstanden, wie das Bundeswirtschafts- und Klimaschutzministerium höchstselbst bereits im Januar 2022 in seiner Eröffnungsbilanz festgestellt hat.
In den Jahren 2022 und 2023 werden die Klimaziele wahrscheinlich verfehlt. In der Bevölkerung hat sich die Stimmung bereits gedreht; die Mehrheit befürwortet eine Laufzeitverlängerung der deutschen AKW. Dass es um die große Überlebensfrage der Menschheit geht, ist bei den Menschen spätestens in diesem Sommer angekommen.
Silke Mertins leitet das Meinungsressort der Berliner Tageszeitung „taz“ und hat in früheren Zeiten gegen AKWs demonstriert.
Nein! Die Gefahren durch Atomkraftwerke sind riesig und das Gasproblem lösen sie trotzdem nicht
findet Oliver Noffke
Geschwollene Gelenke, deformierte Gliedmaßen. Auf den ersten Blick erscheinen einige Felsmalereien im Kakadu-Nationalpark recht kurios. Sie zeigen weder nutzbare Tiere noch allmächtige Gottheiten, sondern verkrüppelte Strichmännchen. Sie sollen Warnungen sein. Wer sich an bestimmten Orten in der Gegend aufhält, könnte krank werden. Die Region ist mittlerweile bekannt für ihre Uranvorkommen. Möglicherweise hatten indigene Völker im Norden Australiens, rund 15.000 Jahre bevor Marie Curie Radioaktivität beschrieb, bereits deren gesundheitliche Gefahren abgebildet.
Atomstrom galt lange als sicher, sauber und günstig. Er ist nichts davon
Die Brennstäbe, die in Atomkraftwerken zur Energiegewinnung eingesetzt werden, enthalten Uran. Kernkraft funktioniert nicht ohne das radioaktive Metall. Zudem funktioniert sie nur, wenn ihre Risiken penibel gemanagt werden. Lange Zeit galt Atomstrom als sicher, sauber und günstig. Er ist nichts davon. Nachdem vor einem Jahrzehnt die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen hatte und in diesem Jahr die letzten drei aktiven Atomkraftwerke in Deutschland hätten stillgelegt werden sollen, werden in der Energiekrise nun doch wieder Stimmen laut, die eine erneute Kehrtwende in Sachen Atomkraft rechtfertigen wollen.
Atomkraft solle die Lücken füllen, die entstanden sind, weil Erdgaslieferungen aus Russland ausbleiben. Unser Land ist derart abhängig von russischem Gas, dass wir erpressbar geworden sind. Wladimir Putin hat in dieser Hinsicht keine Skrupel. Bevor 2014 im Osten der Ukraine Gefechte ausgebrochen waren, hatte er auch dieses Land mit der gleichen Taktik – der Drohung, den Gashahn zuzudrehen – vor sich hergetrieben. Lange wollten unsere Regierungskoalitionen nicht wahrhaben, wer der Mann im Kreml wirklich ist. Das ist der Grund für unsere Energiekrise.
Wie kommen wir aus dieser Lage wieder raus? Auf keinen Fall mit Atomkraft.
Die Verteilungskämpfe ums Erdgas werden mit Atomkraft nicht gelöst
Nicht jede Energiequelle kann beliebig durch andere ersetzt werden. Das gilt insbesondere für Erdgas. Industrieöfen – von der Bäckerei bis zum Stahlwerk – werden damit befeuert. Man könnte sie auf Wasserstoff umstellen, aber, sofern dies überhaupt möglich ist, nur unter großem Aufwand und mit enormen Kosten. Blöd nur, dass wir noch Jahrzehnte davon entfernt sind, Wasserstoff in ausreichender Menge herstellen zu können. Wie viel Erdgas Industrie oder Privathaushalte im Winter erhalten können, müssen sich die zuständigen Behörden nun genau überlegen.
Fakt ist aber: Egal ob wir Atomkraftwerke weiterbetreiben oder nicht, Verteilungskämpfe um Erdgas werden damit nicht gelöst. In Zusammenhang mit nuklearer Energie ist oft von „Restrisiko“ die Rede. Das klingt viel niedlicher, als es tatsächlich ist. Kleinste Fehler, Zufälle oder Unregelmäßigkeiten können albtraumhafte Folgen haben. So wie bei den Unfällen in Tschernobyl oder Fukushima. In der Ukraine werden Atomkraftwerke nun sogar zu Kriegszielen. Der Mensch muss aber nicht maximale Gewalt ausüben, um die Gefahr eines Zwischenfalls zu erhöhen. Das erledigt bereits der Klimawandel.
Damit sich die Reaktoren nicht unkontrolliert erhitzen, benötigen sie große Mengen Frischwasser zum Abkühlen. Als in diesem Sommer durch die Hitzewelle die Pegel in vielen europäischen Flüssen dramatisch sanken, mussten viele AKWs gedrosselt werden. Wo es wegen der Energieknappheit Ausnahmeregelungen gab, konnten die Flüsse ihre Temperatur durch den Zulauf des aufgeheizten Wassers aus den Kernkraftwerken viel schlechter ausgleichen. Für viele Tiere und Pflanzen bedeutete dies enormen Stress wegen des sinkenden Sauerstoffgehalts in wärmerem Wasser. Ausgeprägte Dürren werden künftig immer wahrscheinlicher. Wie sollen diese Atomkraftwerke dann zuverlässig und naturschonend gekühlt werden?
Die Folgekosten trägt die Allgemeinheit
Aber Atomstrom ist doch billig, sagen die Unterstützer. In Wahrheit erscheint er günstig, weil die größten Kostenverursacher – die künftige Endlagerung und der potenzielle Super-GAU – gar nicht erst eingepreist sind. Gewinne privatisieren, Kosten auf die Gesellschaft abdrücken: Das ist – stark verkürzt, aber im Kern zutreffend – die betriebswirtschaftliche Seite von Atomstrom. Von Beginn an wurde er massiv subventioniert. Während Energiekonzerne am Stromverkauf kräftig verdienen, ist ihr Anteil, den sie für die Lagerung des Abfalls zahlen müssen, gedeckelt. Wie auch immer in den kommenden Jahrtausenden mit den strahlenden Überresten umgegangen wird, bezahlt wird das hauptsächlich aus Steuergeldern.
Radioaktivität ist unsichtbar, geruchs-, geschmacks- und geräuschlos. Doch die gesundheitlichen Schäden, die sie anrichtet, sind permanent. Mutationen im Erbgut können bei der Zeugung als genetisch bedingte Krankheiten an die Kinder weitergegeben werden. Man muss nicht weit reisen, um auf Leute zu treffen, die davon erzählen können. Im Erzgebirge und im Osten Thüringens, wo zu DDR-Zeiten Uran abgebaut wurde, sind die Folgen noch spürbar. Dort gibt es Landschaften, die teuer renaturiert wurden. Dort leben die Nachfahren von Bergarbeitern, die ihre viel zu früh verstorbenen Großväter nie richtig kennengelernt haben. Wenn eine Windkraftanlage abbrennt, ist das ärgerlich. Sobald die Überreste weggeräumt sind, können wir trotzdem das Korn der umliegenden Felder verzehren, ohne davon Wucherungen in der Schilddrüse zu bekommen. Wurde radioaktive Strahlung einmal am falschen Ort freigesetzt, lauert sie quasi ewig im Hintergrund.
Atomstrom ist mit enormen Risiken verbunden, der Abbau von Uran schädigt Menschen und Natur, wie mit dem Abfall umgegangen werden soll, ist nach wie vor unklar. Diejenigen, die daran verdienen, werden diese Probleme nicht lösen. Wieso sollen wir uns das weiterhin antun?
Als Student ist Oliver Noffke oft an den Abfallhalden eines Uran-Bergwerks vorbeigefahren. Seitdem ist er von schrägen Fakten zu Radioaktivität fasziniert: Etwa, dass die ersten Atombombentests der USA Wüsten in Meere aus Glasstücken verwandelt haben.
Collagen: Renke Brandt