Worum geht’s?
Die Welt ist im Chaos versunken, denkt die 17-jährige Yada. Auch wenn sie selbst davon nichts mitbekommt. Seit zehn Jahren lebt sie auf der „Seestatt“, einer schwimmenden Stadt in der Ostsee. Ihr Vater, ein Tech-Unternehmer mit großen Ideen und kleinem Verständnis für die Bedürfnisse seiner Tochter, hatte die künstliche Insel als Gegenentwurf zum Festland entworfen, wo Armut, Hunger und Aufruhr herrschen: Die Klimakrise hat sich in dieser nicht näher definierten Zukunft weiter zugespitzt.
Doch auch die einst so utopische Seestatt verkommt. Yada lebt dort fast isoliert, ohne Gleichaltrige, nur mit Erwachsenen, größtenteils Männern, und wird in Physik, Mathe und Business Strategy unterrichtet. Sie fragt sich, unter welcher geheimnisvollen Krankheit ihre Mutter litt, bevor sie starb. Währenddessen wehrt sich in Berlin die exzentrische Künstlerin Helena Harold dagegen, von Fans als Guru vereinnahmt zu werden. Ihr Problem: Zuvor hat sie Prophezeiungen getroffen, die zufällig in Erfüllung gegangen sind. Yada macht nach und nach auf der Seestatt Entdeckungen, die sie an ihrem Vater und dessen Visionen zweifeln lassen. Muss Yada wirklich vor der Welt draußen geschützt werden – oder dient die Utopie vom Inselstaat nur als Vorwand?
Worum geht’s wirklich?
Um die großen Fragen, die einen beschäftigen, wenn man jung ist: Wie handelt man, wenn die Zukunft unsicher ist? Ist Sicherheit oder Freiheit wichtiger? Und wie wird man eigentlich erwachsen? Behutsam und unaufgeregt erzählt Enzensberger davon, wie Yada sich zum ersten Mal verliebt, gegen ihren Vater rebelliert und eigene Entscheidungen trifft. Während Yada Idealistin ist und trotz Widrigkeiten nicht aufgibt, hat die ältere Helena längst resigniert: „Ich will die Welt aber überhaupt nicht verändern. Die Welt kann mir gestohlen bleiben“, sagt sie an einer Stelle. Die Verantwortung, die mit ihrer Popularität einhergeht, will sie lange nicht akzeptieren. Letztlich konfrontiert der Roman einen mit der Frage, wie man selbst mit Zukunftsangst umgehen würde: wie Yada, wie ihr größenwahnsinniger Vater oder wie Helena?
Wie ist es erzählt?
Abwechselnd aus der Sicht von Yada und Helena. Dazwischengestreut ist ein „Archiv“, in dem verschiedene historische Fälle von ausgedachten Staaten und Schwindlern gesammelt sind. Wie von dem Finanzbetrüger Gregor MacGregor, der Anfang der 1820er-Jahre in London Staatsanleihen im Namen des Fantasiestaates Poyais verkaufte. Yadas Erlebnisse sind aus der Ich-Perspektive erzählt, Helenas Geschichte in der dritten Person, wobei die Erzählinstanz nur ihre Sicht, Gedanken und Gefühle kennt.
Trotzdem hat man das Gefühl, beiden nah zu sein, weil sie so realistisch und detailtreu gezeichnet werden. Zum Beispiel Yada, wie sie eine Entdeckung vor ihrem Vater in einer Tamponschachtel versteckt, oder Helena, wie sie in einem tagelangen Dunst aus Feierei und Verantwortungslosigkeit verschwindet und ihre Haare nicht aus dem Duschabfluss fischt. Obwohl die Welt, die Enzensberger entwirft, fantasievoll ist, bleibt ihre Sprache lebensecht und so klar, dass manche Sätze nachhallen, wenn man das Buch schon aus der Hand gelegt hat.
Lohnt sich das?
Ja, wenn nicht wegen der Geschichte, dann wegen der Charaktere. Dystopien sind nichts Neues, und an Kreativität übertrifft Enzensberger keine Margaret Atwood oder Marlen Haushofer, keinen George Orwell oder Aldous Huxley. Aber Yada, Helena und ihre Mitstreiterinnen sind so echt und einnehmend erzählt, dass man mit ihnen mitfiebert – und dass vor allem die männlichen Charaktere ganz natürlich in den Hintergrund treten. „Auf See“ regt dazu an, Machtverhältnisse zu hinterfragen – zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, Frauen und Männern – und zu versuchen, sein eigenes Schicksal zu gestalten. So wie Yada es tut: „Obwohl sich alle Gewissheiten aufgelöst hatten, fühlte ich mich zum ersten Mal seit langem sicher. Ich konnte niemandem vertrauen, nur mir selbst.“
Schade
Die geschichtsstundenartigen Archivabschnitte will man fast überblättern, um zu erfahren, wie es mit Yada und Helena weitergeht. So bleibt die fundierte Recherche etwas auf der Strecke. Außerdem ist die zeitliche Struktur komplex: Man muss konzentriert lesen und versteht manches erst rückblickend. Wer eine entspannte Lektüre für einen Tag am See möchte, sollte zu einem anderen Roman greifen.
Der beste Satz
… ist einer, den Theresia Enzensberger über Yadas erstes Mal schreibt und der ein Gefühl in Worte fasst, das man kennt, aber nicht selbst zu beschreiben wüsste: „Als wir miteinander schliefen, nahm mir ihre Bestimmtheit alle Hemmungen, mein Körper wurde mir selbstverständlich.“
Ideal für …
… Fans von Karen Köhlers feministischen Inselroman „Miroloi“. Und alle Menschen, die bei der Bekämpfung ihrer Zukunftsangst gut unterhalten werden wollen.