Wie nennt man jemanden, der Anfang 2014 Sandalen, Schlabberjeans und einfarbige T-Shirts getragen hat? Einen Trendsetter! Nicht besonders komisch, dennoch könnte so in ein paar Jahren ein Witz über die derzeitige Modewelt lauten. Nachdem sich inzwischen selbst hartgesottene Hornbrillen-, Jutebeutel und Holzfällerbart-Verfechter nur ungern als Hipster bezeichnen lassen, scheint es einen Ausweg aus der modischen Existenzkrise zu geben: Ziehe dich so durchschnittlich an, wie es nur geht.
Was „K-Hole“, ein New Yorker Trendbüro, im Oktober 2013 als Voraussage veröffentlichte, liest sich heute beinahe wie ein Mode-Manifest. Eine der Kernaussagen des Reports über die Jugend und ihre Gebräuche („Youth Mode“) lautet: Im Füllhorn des Besonderen erkennt niemand mehr das Besondere. Das ist natürlich vor allem für den Hipster ein Dilemma. Schließlich ist er der Hohepriester des Besonderen. Mit seinen präzisen wie elitären Geschmacksvorstellungen definiert er sich darüber, anders als die anderen zu sein. Und das soll auch jeder an seinem Look sehen. Sein ausgeprägter Stilehrgeiz macht ihn auch zum Vorreiter in Sachen Mode: Was er heute trägt, hängt morgen in den Läden und ist für alle verfügbar. Doch je mehr Leute besonders sein wollen und den Hipster-Look imitieren, desto weniger funktioniert er. Die Lösung: Statt mit immer noch exzentrischeren Outfits um Aufmerksamkeit zu kämpfen, sei es viel effektiver, sich möglichst unauffällig anzuziehen, argumentierte K-Hole. Diese Strategie nannten sie „Normcore“ – ein Kofferwort aus „normal“ und „hardcore“. 2014 war es der am häufigsten gegoogelte Fashion-Begriff – und einer der umstrittensten. Marketing-Tool und Modewort für Journalisten zugleich, geistert „Normcore“ bis heute durch die Welt der Medien.
Ist diese zur Schau gestellte Unauffälligkeit eine neue Form der Unangepasstheit? Möglicherweise sogar die einzig noch funktionierende? Dieser Frage geht Modetheoretikerin Diana Weis in ihrem Aufsatz „Revolte im Kinderzimmer“ nach. Früher waren die Verhältnisse klarer: Hippies dienten die langen Haare und die Schlaghosen als Mittel, um sich von bürgerlichen Werten zu distanzieren. Für Punks erfüllten der Irokesenschnitt und die Sicherheitsnadeln in den Lederjacken diese Funktion. Heute sollen es locker sitzende Jeanshosen und Tennisschuhe sein, mit denen die Jugend ein Statement setzen kann.
Je langweiliger, desto cooler? Nicht unbedingt, meint Weis. Es mache etwa einen Unterschied, ob ein 16-Jähriger ein unauffälliges Outfit trägt oder der milliardenschwere Facebook-Chef Mark Zuckerberg die vorherrschende Kleiderordnung von Business-Eliten außer Kraft setzt. Ähnlich wie seinerzeit Apple-Gründer Steve Jobs in seinem Rollkragenpulli hebt sich Zuckerberg mit Jeans, Sneakers und grauem Rundhals-T-Shirt vom Business-Einheitslook ab.
Die rasante mediale Verbreitung des Begriffs gibt Modetheoretikerin Weis aber recht in ihrem Argument, dass Normcore ein neuer Schauplatz des Generationenkonflikts sei und nicht dessen Ende. Bereits kurze Zeit nachdem K-Hole den Begriff in die Welt setzte, waren die ersten Ratgeber-Listen im Internet zu finden: „Die zehn Normcore-Dinge, die jeder Mann haben sollte“. Oder ins Negative gekehrt: „Warum du Normcore-Typ ein Idiot bist“. Allein diese mediale Aufmerksamkeit habe, wie die „New York Times“ bereits im April 2014 schrieb, zu einer Verfestigung des Phänomens geführt.
Sollte Normcore zumindest in Ansätzen eine Gegenbewegung gewesen sein, droht ihr bereits die Vereinnahmung – so wie das in der Vergangenheit mit anderen Trends und zuletzt auch mit dem Hipster geschehen ist. Im Herbst 2014 startete der US-Bekleidungshersteller Gap, der seit jeher ziemliche Normalo-Mode macht, eine Kampagne mit dem Titel „Dress Normal“. Bei den atmosphärisch dichten Kampagnen-Filmchen in Schwarz-Weiß führte David Fincher Regie („The Social Network“, „The Newsroom“). Der Widerspruch im Slogan eines der Spots fasst die Verwirrung des Bekleidungszeitgeistes gut zusammen: „The uniform of rebellion and conformity“.
Die Kampagne wurde für den Konzern jedoch zum Flop. Wall-Street-Analysten haben auch eine Erklärung, warum sich die Sachen nur schwer verkaufen ließen. Die Gap-Kunden, so heißt es, wollen gar nicht „normal“ sein. Oder zumindest wollen sie nicht, dass ihnen jemand sagt, was normal ist und was nicht.
Andreas Pankratz (geboren 1981 in der weitgehend jeans- und turnschuhfreien UdSSR) ist freier Journalist in Köln und freut sich über seine Reebok-Sneaker und ein paar alte T-Shirts, die gerade unverhofft eine modische Aufwertung erfahren.