Wenn Julia Maczejewski wie an diesem Morgen die Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin betritt, dann nicht zum Lernen – sondern zum Geld verdienen. Maczejewski nimmt den Aufzug in den sechsten Stock, wo die historischen Sammlungen untergebracht sind, und geht an die Arbeit: Die Bachelor-Studentin klebt neue Signaturen auf brüchige Buchrücken oder sortiert den „Schimmel-Rücklauf“ ein, jene Bücher, die nach der Reinigung wieder zurück in die Regale gehören.
Bis zu zwölf Stunden in der Woche verbringt die 25-Jährige so in der Bibliothek – Zeit, die ihr fürs Studium fehlt – und vor allem für die Prüfungsvorbereitung: Gut die Hälfte der Seminare, Vorlesungen und Übungen aus den ersten drei Semestern müsse sie deshalb wiederholen, sagt Maczejewski: „Vollzeit studieren und nebenher noch zwei, drei Mal die Woche arbeiten ist einfach zu viel“.
Der Anteil der Jobber steigt, die Teilnahme an Lehrveranstaltungen sinkt
Die jüngste Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks aus dem Jahr 2016 zeigt: 68 Prozent der Studierenden arbeiten neben dem Studium – dabei ist die Uni allein für die meisten schon ein Vollzeitjob. 33 Stunden wenden Studierende im Schnitt für Uni-Kurse und Selbststudium auf. Während der Anteil der Jobber gestiegen ist, ist die Teilnahme an Lehrveranstaltungen gesunken: zuletzt auf 15 Stunden in der Woche – den niedrigsten Wert seit 1991.
Konkret sieht der im Januar beschlossene Gesetzesentwurf Folgendes vor: Die Wohnpauschale soll von derzeit 250 auf 325 Euro erhöht werden. Die Bedarfssätze sollen bis 2020 um insgesamt sieben Prozent angehoben werden. Der Höchstsatz steigt damit auf 861 Euro. Laut Bildungsministerium sollen die ersten Erhöhungen am 1. August dieses Jahres in Kraft treten.
Eine Entwicklung, die nicht alle für bedenklich halten. Gerade in technischen Studiengängen wird den Studierenden dringend empfohlen, ihr theoretisches Wissen aus dem Studium so früh wie möglich auch praktisch anzuwenden. Das bringt nicht nur Geld ein, sondern vielleicht sogar den ersten Job nach dem Studium. Mittlerweile hat fast jede Hochschule ein eigenes „Career Center“, das Studierende vor dem Berufseinstieg berät. Dort hören auch Geisteswissenschaftler, dass es sich gut macht, wenn man schon beim Nebenjob in sein angestrebtes Berufsfeld reinschnuppert.
So sinnvoll Praxiserfahrung ist – für viele Studierenden ist nicht der Karriereplan, sondern die finanzielle Not der ausschlaggebende Grund zu jobben. Und der finanzielle Druck nimmt zu, beobachtet Bildungsforscher Dieter Dohmen vom Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS). Allein zwischen 2012 und 2016 seien die durchschnittlichen Gesamtausgaben der Studierenden – Stichwort steigende Lebenshaltungskosten – um bis zu 55 Prozent gestiegen. Im Sommer 2016 hätten Studierende, die nicht mehr bei den Eltern wohnen, im Schnitt 819 Euro im Monat zum Leben gebraucht. „Heute“, schätzt Dohmen, „dürfte der Bedarf im Schnitt zwischen 850 und 900 Euro liegen“. Der aktuelle Bafög-Höchstsatz beträgt – inklusive Wohnpauschale und Zuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung – aber nur 735 Euro.
Nicht nur die Bedarfssätze sollen kräftig steigen –auch die Freibeträge für Einkommen
Die rasante Mietpreiserhöhung in vielen Hochschulorten ist einer der Gründe, warum die Bundesregierung im Koalitionsvertrag eine Bafög-Reform versprochen hat. Ein anderer: Die Zahl der Bafög-Empfänger ist seit Jahren im Sinkflug, weil durch höhere Löhne viele mögliche Empfänger die Grenzbeträge überschreiten. Im Jahr 2017 wurden 557.000 Studierende und 225.000 Schüler gefördert – so wenige wie Anfang der 1990er-Jahre. Deshalb sollen nun die Bedarfssätze kräftig steigen, ebenso die Freibeträge für Einkommen und Vermögen. Dadurch, so erhofft sich die Regierungskoalition aus Union und SPD, werden in Zukunft wieder mehr junge Menschen Bafög erhalten. Doch reichen die geplanten Erhöhungen aus, damit Studierende wie Julia Maczejewski sich voll auf das Studium konzentrieren können?
Kaum, kritisieren unter anderem die Bildungsgewerkschaft GEW und das Deutsche Studentenwerk. Die Erhöhungen würden gerade mal die Preisentwicklung der letzten Jahre ausgleichen. Und auch Bildungsforscher Dohmen vom FiBS sagt: „Die vorgesehenen Erhöhungen der Bafög-Sätze und insbesondere der Wohnpauschale sind ein deutlicher Schritt, aber selbst die künftigen Höchstsätze reichen für die meisten angesichts der steigenden Ausgaben nicht zum Leben aus“.
Wer die Regelstudienzeit überschreitet – weil er etwa viel jobbt – verliert sein Bafög
Zu welchen Problemen das mitunter führt, kann Malte Wünsche beschreiben. Der 34-Jährige studiert Geographie in Berlin und bezieht den derzeitigen Bafög-Höchstsatz von 735 Euro. Zum Leben aber braucht er wenigstens 900 Euro. Um regelmäßig seine Familie in Hamburg besuchen zu können oder wie neulich mal eben ein paar Hundert Euro für eine Zahnarztrechnung hinlegen zu können, muss auch Wünsche neben dem Studium jobben.
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Diese Belastung trägt dazu bei, dass Wünsche statt der vorgesehen sechs nun neun Semester brauchte, um seinen Bachelor abzuschließen. Weil er damit die Regelstudienzeit übertrat, erhielt Wünsche zunächst kein Bafög mehr. Zwar gewähren die Bafög-Ämter in bestimmten Fällen wie einer schweren Krankheit eine Verlängerung – eine finanzielle Zwicklage erkennt sie aber nicht als Grund an. „Absurd“, sagt Wünsche. „Man geht davon aus, dass Studierende mit Bafög Vollzeit studieren können, obwohl die Realität ganz anders aussieht.
Dieser Widerspruch ist auch bei der Studentischen Sozialberatung der Berliner Humboldt-Universität häufig Thema. Beraterin Anna Ilgert bedauert, dass die Bafög-Reform keine Lockerung bei den Bezugszeiten vorsieht: „Für die meisten Bafög-Empfänger bedeutet das zum Ende des Studiums zusätzlichen Stress“. Dann, wenn man sich eigentlich auf die Abschlussprüfungen konzentrieren sollte.
Einen ähnlichen Einwand hat zuletzt auch der Bundesrat vorgetragen und weitere Nachbesserungen gefordert – etwa, die Bafög-Sätze automatisch an die tatsächliche Preis- und Einkommensentwicklung anzupassen. So eine Koppelung hat die Bundesregierung bislang allerdings nicht vorgesehen. Ob die versprochene „Trendwende“ mit der jetzigen Reform gelingt, ist umstritten.
Steht auch zur Diskussion: elternunabhängiges Bafög und mehr Stipendien
Ob die Bafögsätze erhöht werden oder nicht, entscheidet der Bundestag am 16. Mai. Die Opposition hat bei der ersten Anhörung im Bundestag die Reform der Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) heftig kritisiert und zum Teil eigene Vorschläge vorgestellt, unter anderem eine elternunabhängige Förderung (FDP) oder die Möglichkeit, das Bafög bei guten Leistungen in ein Stipendium umzuwandeln (AfD). Die Grünen forderten Erhöhungen „nicht in kleinen Schritten, sondern in einem Rutsch.“ Die Linkspartei ist sich sicher, dass auch nach der Erhöhung des Wohngeldes „die meisten Studierenden ihre Miete nicht über das Bafög bezahlen“ können.
Der Geographie-Student Malte Wünsche hat in der Zwischenzeit selbst eine Lösung für sein Problem gefunden: Er konnte sein Engagement bei der Fachschaft geltend machen, außerdem hat er eine chronische Krankheit – beides wurde mit je einem zusätzlichen Semester Bafög berücksichtigt. Andere stehen aber plötzlich ohne Geld da. „Ein oder zwei Semester länger Bafög würde schon total entlasten“, sagt Wünsche.
Davon würden übrigens nicht nur Bummler profitieren, sondern ein Großteil der Studierenden: Vier von fünf Absolventen beenden ihr Studium mit maximal zwei Semestern über der Regelstudienzeit – und das, obwohl viele von ihnen nebenher jobben mussten.
Titelbild: Cortis & Sonderegger / 13 Photo