Worum geht's?
- Es gab in Deutschland vor Kurzem eine Debatte, ob das oft „Hartz IV“ genannte Arbeitslosengeld II den Beziehern das Lebensnotwendige ermöglicht oder zu gering bemessen ist.
- Die Autorin ist in einer Familie aufgewachsen, die lange Jahre von Hartz IV leben musste.
- Sie schildert hier Ihre Erfahrungen: Man hat zwar das Lebensnotwendige, aber es ist sehr hart und man gerät ins soziale Abseits.
- Dass ihr Vater todkrank geworden und gestorben ist, führt die Autorin auch darauf zurück, dass er keine Perspektive mehr hatte.
Ich sitze im Münchner Büro meines Chefs und versuche, ihm zu erklären, warum ich meinen Job kündigen will. Neben vielen anderen Gründen sage ich: „Ich würde gerne wieder nach NRW ziehen, um näher bei meiner Mutter zu sein.“
„Kann deine Mutter nicht einfach hierherziehen?“
„Nein, das geht nicht. Sie lebt von Hartz IV und kann nicht einfach so umziehen“, sprudelt es aus mir heraus.
Peinliches Schweigen. Mein Chef ist sichtbar betreten und wechselt gleich das Thema.
Mittlerweile ist es mir nicht mehr unangenehm zu sagen: Meine Mutter lebt von Hartz IV. Meine Familie hat, als ich noch Teenager war, lange Zeit von Hartz IV gelebt. Ich finde, das sollte kein Stigma sein.
Meine Bekannten sind immer wieder überrascht, wenn sie erfahren, in welchen Verhältnissen ich aufgewachsen bin: Ich habe studiert, bin Vegetarierin, lese gerne klassische Literatur und kaufe hin und wieder in Boutiquen ein. Aber trotzdem weiß ich, wie es ist, von unter 400 Euro im Monat zu leben. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn deine Eltern ihr Leben aufgeben und nur noch vor dem Fernseher hocken, weil es sonst nichts mehr zu tun gibt. Und ich weiß, wie meine Mutter bis heute mit ihrem Dasein kämpft.
In den 1980er-Jahren kamen meine Eltern aus Polen nach Deutschland, um hier ihr Glück zu versuchen. Ihre Studienabschlüsse wurden leider nicht anerkannt, weswegen sie sich mit Jobs wie Putzen, Essen ausliefern oder Zeitungen austragen durchschlugen. Leider ging das letzte Unternehmen, bei dem sie angestellt waren, pleite. Von 2005 an lebten wir von Hartz IV.
Damals bedeutete das: Der Staat übernahm die Kaltmiete und die Betriebskosten unserer 65 Quadratmeter großen Wohnung und zahlte einen Regelsatz von 622 Euro für meine beiden Eltern und 276 Euro für mich, damals 17 Jahre alt. Insgesamt hatten wir also als dreiköpfige Familie 898 Euro pro Monat.
Armut zeigt sich auch in sozialer Ausgrenzung und darin, dass man sein Leben nicht mehr frei gestalten kann
Von da an gab es keine Restaurantbesuche mehr. Keinen Urlaub. Und neue Klamotten nur, wenn es besonders notwendig war.
Unser Alltag drehte sich vor allem um Geld: Was können wir heute zu essen einkaufen, damit es noch bis zum Ende des Monats reicht? Wocheneinkäufe fielen flach. Wir versuchten, öfter, aber dafür weniger einzukaufen, denn so konnten wir eher auf günstigere Angebote hoffen. Häufig gab es billiges Fleisch vom Discounter und sehr oft Kartoffeln, immer wieder auch Suppen oder Eintöpfe – Dinge, die man günstig in großen Mengen kochen kann. Oft habe ich auch von meinem Geld, das ich als Nachhilfelehrerin nebenbei verdiente, für uns eingekauft. So konnte ich meine Eltern unterstützen oder zumindest mein eigenes Essen finanzieren.
Schulausflüge wurden zum Problem. Ich musste Förderanträge stellen, um an solchen Aktivitäten teilzunehmen. Selbstverständlich wussten dann alle meine Klassenkameraden von meiner Situation, die von unseren Lehrern auch gerne vor versammelter Menge besprochen wurde.
Es wäre natürlich kein Weltuntergang gewesen, wenn man mit seinen Mitschülern nicht Ski fahren gehen kann. Aber Armut zeigt sich auch in sozialer Ausgrenzung und darin, dass die Möglichkeiten, sein Leben frei zu gestalten, nicht mehr gegeben sind. Das wurde mir vor allem dann bewusst, wenn meine Freunde ganz selbstverständlich von ihren Reisen erzählten oder ihren Führerschein machten.
„Glaubst du, es tut mir nicht weh, dass eine andere Frau dich in den Urlaub mitnimmt und ich dir das nicht bieten kann?“
Drei wichtige Fragen zu Hartz IV:
Was ist der Unterschied zwischen Arbeitslosengeld I und Hartz IV?
Am stärksten spürte wohl meine Mutter den Druck. Sie versuchte zu sparen, wo es ging, und kaufte niemals etwas für sich selbst. Wenn sie doch einmal ein neues Kleidungsstück brauchte, wartete sie auf passende Angebote beim Discounter oder kaufte secondhand.
Sie managte alle Termine beim Jobcenter, saß stundenlang im Amt und kümmerte sich um Fristen und Formulare. Ich verstand erst später, wie sehr sie darunter litt, mir nicht das finanzieren zu können, was sie sich für mich wünschte. Manchmal sagte sie: Wenn sie gewusst hätte, dass es so kommt, hätte sie keine Kinder bekommen.
Als die Mutter eines Freundes mich nach dem Abi mit in den Urlaub nehmen wollte, weil ich es mir nicht leisten konnte, wie viele meiner Klassenkameraden zu verreisen, schrie meine Mutter mich unter Tränen an: „Glaubst du, es tut mir nicht weh, dass eine andere Frau dich in den Urlaub mitnimmt und ich dir das nicht bieten kann?“
Mein Vater reagierte, indem er gar nicht mehr reagierte. Nur seine Krankheiten schritten voran
Mein Vater reagierte auf unsere finanzielle Situation, indem er gar nicht mehr reagierte. Immer mehr zog er sich aus unseren Leben zurück. Seine Krankheiten, Diabetes und Arteriosklerose, schritten voran. Essen und Fernsehen waren seine einzigen Beschäftigungen.
Dass er in einem fremden Land eine Familie gegründet und sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr alleine versorgen konnte, hat er niemals verarbeitet. Zunächst scheiterte er, weil er mit seinem Ausbildungshintergrund und in seinem Alter von über 50 keine Arbeit mehr fand. Dann scheiterte er zunehmend an seinen Launen und seinem isolierten Dasein. Er starb, als ich 18 war, an den Folgen seiner Krankheit.
Während die anderen in der Schule „Faust“ lasen, saß ich im Jobcenter und diskutierte meinen Antrag
Zu diesem Zeitpunkt zog meine Mutter nach Essen, weil sie Aussicht auf einen neuen Job hatte. Ich blieb in Düsseldorf, um dort noch die Schule abzuschließen. Leben sollte ich währenddessen von Schüler-Bafög, das das Amt für Ausbildungsförderung zahlt und in der Regel Schulkinder bekommen, die wie ich nicht bei ihren Eltern wohnen können: Der damals für mich berechnete Schüler-Bafög-Satz war zwar etwas niedriger als die Hartz-IV-Zahlungen, aber das Amt für Ausbildungsförderung war verständnisvoller als die Agentur für Arbeit. Doch bis mein Antrag auf Schüler-Bafög bewilligt war, musste ich weiterhin von Hartz IV leben.
Plötzlich war ich nicht nur angehende Abiturientin, sondern vollwertige Hartz-IV-Empfängerin – schließlich war ich volljährig, erwerbslos (Schülerin ist nun einmal kein Beruf) und meine Mutter konnte mich finanziell nicht unterstützen.
Sechs Monate lang lebte ich von Hartz IV. Während andere in der Schule Vektoren berechneten oder „Faust“ lasen, saß ich in diesen sechs Monaten oft im Jobcenter und diskutierte meinen Antrag. Wegen bestimmter Komplikationen und eines Missverständnisses wurde mir zwei Monate lang lediglich die Wohnung bezahlt, nicht aber der Regelsatz. Mein Leben war zu dieser Zeit sehr simpel: Ich wohnte in einem 20-Quadratmeter-Apartment in der Düsseldorfer Innenstadt, ohne Telefon oder Internet. Bis ich gratis einen Kühlschrank auftreiben konnte, kühlte ich mein Essen auf der Fensterbank.
Das Studium nach dem Abitur und die Aussicht auf finanzielle Sicherung durch Bafög erschienen mir damals wie eine Erlösung. Zum einen war der Bafög-Satz fürs Studium etwas höher. Zum anderen ist es allgemein akzeptiert, wenn jemand sein Studium nicht selbst finanzieren kann. Ich hatte Glück, nur wenige schaffen es, Hartz IV zu überwinden. Ich habe mein literaturwissenschaftliches Studium erfolgreich abgeschlossen und gleich nach dem Studium ein Volontariat in einer Online-Redaktion gemacht. Gerade einmal 16 von 1.000 Langzeitarbeitslosen, zu denen ich, ohne jemals arbeitslos gewesen zu sein, statistisch gehörte, finden jeden Monat den Weg in die Berufswelt zurück.
Ein halbwegs normales Leben kann man führen. Aber der Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft ist schwer
Meine Mutter hatte weniger Glück. Nachdem sie ein paar Jahre eine Vollzeitstelle in Essen hatte, ging leider auch dieses Unternehmen insolvent. Als sie, damals 57, zur Beratung im Jobcenter erschien, wurde ihr gleich klargemacht, dass sie nicht mehr in eine Vollzeitstelle zu vermitteln sei – von dem Amt, das ihr eigentlich helfen sollte. Damals, vor fünf Jahren, habe ich es meiner Mutter übelgenommen, dass sie nicht wenigstens versucht hat, sich zu bewerben. Heute verstehe ich, dass sie keine Kraft mehr hatte.
Bis heute unterstütze ich meine Mutter, so gut ich kann. Dennoch kann und darf ich ihr nicht das Leben finanzieren, das ich ihr, mittlerweile 62, nach all den Strapazen wünsche.
Selbstverständlich kann man ein halbwegs normales Leben mit Hartz IV führen. Man kann sich Nahrung, Haushaltsgegenstände und Kleidung leisten. Das Überleben ist gesichert. Aber wie soll man sich in die Mitte der Gesellschaft wieder eingliedern können, wenn man einerseits aufgrund der limitierten finanziellen Mittel, andererseits wegen des Sozialschmarotzer-Stigmas niemals vollwertig dazugehört? Hartz IV reproduziert die Armut, die es eigentlich bekämpfen sollte: durch Reglementierung, Perspektivlosigkeit und schlichtweg durch den Stempel, den Empfänger aufgedrückt bekommen.
Fotos: privat