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Cotton Club

Kaum ein Produkt steht so für Sklaverei wie Baumwolle. Die Plantagen waren nicht nur ein Ort des Rassismus, auch die Globalisierung nahm hier ihren Anfang

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Bevor er zwölf war, stand Louis Hughes in einem Auktionsraum und hörte, wie ein Mann zu ihm sagte: „You look like a right smart nigger. Virginia always produces good darkies.“ Dann hörte er, wie ein anderer rief: „380 Dollar – zum Ersten, zum Zweiten und verkauft an Mr. Edward McGee.“ Es war keine Maschine, die Edward McGee, ein reicher weißer Baumwollplantagenbesitzer aus Pontotoc, Mississippi, erwarb. Der Preis, den Louis Hughes hörte, war sein Preis – er war das Weihnachtsgeschenk für McGees Frau. 20 Jahre lang sollte Hughes als Sklave für die McGees arbeiten. 20 Jahre lang Misshandlung im Dienste der Weißen, die in Hughes nur ein Werkzeug sahen, um an die Fasern einer Pflanze zu kommen, die im 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Rohstoffe der Welt geworden war: Baumwolle.

Die Baumwollpflanze blüht weiß, gelb oder purpurrot und bildet nach der Blütezeit Fruchtkapseln, aus denen nach dem Platzen ein Wollbausch herausquillt. Der besteht aus bis zu 5,6 Zentimeter langen Samenhaaren, aus denen sich Garne spinnen und daraus wiederum weiche, reißfeste, saugfähige, hautfreundliche Stoffe weben lassen.

Eine Blutspur durchzieht die Geschichte der Baumwolle

Heute ist ein Leben ohne Baumwolle kaum vorstellbar: Ohne sie wären die meisten Kleiderschränke erheblich leerer, Kaffeefilter würden anders aussehen, Banknoten sich anders anfühlen, und 350 Millionen Menschen weltweit müssten sich ihren Lebensunterhalt mit etwas anderem verdienen als mit der Produktion, dem Transport und der Lagerung von Baumwolle.

Doch eine Blutspur zieht sich durch die Geschichte der Baumwolle. Sie lebt von Eroberungen und Landraub, von Ausbeutung und Ungleichheit. Genauso von Vernetzung: Das Leben eines Webers in Indien hing mit dem eines Sklaven in den USA zusammen, das eines Händlers in England mit dem einer Familie amerikanischer Ureinwohner.

Denn die Geschichte der Baumwolle hat ungezählte Protagonisten: angefangen bei den Menschen im Nordwesten Indiens und in Peru, die bereits um 5000 vor Christus Baumwolle verarbeiteten; bei den Erfindern von Webstühlen und Spinnrädern, die die Verarbeitung der Fasern erleichterten; und bei den indischen Händlern und Webern, die Indien um 1000 nach Christus zu einem Zentrum der Textilwirtschaft machten und Baumwolle nach China, Südostasien, Mesopotamien und bis nach Afrika verkauften.

In Europa blieb Baumwolle lange Zeit ein exotischer Stoff; die Menschen kleideten sich vor allem in Wolle und Leinen. Baumwolle wuchs nur in subtropischen Gegenden, sie war teuer und ihre Verarbeitung aufwendig: zunächst pflücken, Samenkapsel und Samen entfernen, die kurzen Fasern zu Fäden spinnen und dann zu Stoffen weben. Erst im 18. und 19. Jahrhundert schrieben europäische Kaufleute die Geschichte der Baumwolle um. Sie liehen amerikanischen Plantagenbesitzern Geld, damit diese auf dem Land, von dem sie amerikanische Ureinwohner vertrieben hatten, Baumwolle anbauen konnten. Sie zwangen indische Weber, für europäische Handelsgesellschaften zu arbeiten. Sie tauschten indische Stoffe gegen afrikanische Sklaven, die sie nach Amerika verschifften, wo diese für europäische Kaufleute auf Plantagen schufteten und Baumwolle pflückten. Europa wurde zum Hauptproduzenten von Baumwolltextilien – es entstand ein weltumspannendes Imperium, das sich selbst ernährte.

Die industrielle Revolution veränderte die Arbeit auf den Plantagen

Und es sollte sich immer schneller ernähren, denn mit der industriellen Revolution und den zahlreichen Erfindungen, die sie hervorbrachte, ersetzten Maschinen die mühevolle Handarbeit: 1764 erfand James Hargreaves die erste industrielle Spinnmaschine. Die „Spinning Jenny“ konnte mit acht Spindeln gleichzeitig arbeiten. Fünf Jahre später entwickelte Richard Arkwright mit der „Water Frame“ die erste Spinnmaschine, die nicht von Menschenhand angetrieben werden musste, sondern mit Wasserkraft funktionierte und von Hilfsarbeitern bedient werden konnte.

Eine Erfindung sollte noch größere Auswirkungen haben, denn sie machte den Baumwollanbau im großen Stil erst möglich: 1793 erfand Eli Whitney die Egreniermaschine, auch „Cotton Gin“ genannt. Diese Maschine trennte die Samenhaare von den fest daran haftenden Samenkörnern. Durch den Wegfall dieser vormals zeitintensiven Handarbeit konnten mehr Sklaven zum Pflücken der Baumwolle eingesetzt und mehr Samenhaare zu Fasern verarbeitet werden. Die Anbauflächen wurden vergrößert, immer mehr Arbeitskräfte waren nötig. Fast zwei Millionen Sklaven arbeiteten Mitte des 19. Jahr­hunderts in den USA auf mehr als 74.000 Baumwollplantagen.

Louis Hughes war einer davon. Er kam 1832 in Virginia zur Welt als Sohn eines weißen Mannes und einer schwarzen Frau zur Welt – als Sklave. In seiner Autobiografie „Thirty Years a Slave. From Bondage to Freedom“, die 1896 erschien, schrieb Hughes von Sklavenmärkten, bei denen er in einer Reihe aufgestellt neben anderen Schwarzen stand, von Käufern begutachtet und gefragt wurde: „Was kannst du? Bist du ein guter Koch? Bist du ein Schmied? Kannst du schnell Baumwolle pflücken?“

Als Hughes auf die Baumwollplantage von Edward McGee kam, arbeitete er für McGees Frau, nachts schlief er auf dem Boden. Aufseher und Vorarbeiter überwachten ihn und 160 andere Sklaven, bei Vergehen wurden die Sklaven ausgepeitscht, oft so stark, dass eitrige Wunden entstanden und Narben blieben. Hughes schrieb: „Ich gewöhnte mich an die harte Behandlung der Sklaven, aber immer wieder passierte etwas, das mich wünschen ließ, ich wäre tot.“

Viermal versuchte Louis Hughes zu fliehen, viermal wurde er erwischt

Manchmal veranstalteten die Farmer Wettkämpfe, bei denen sie zwei Gruppen von Sklaven gegeneinander antreten ließen. Von dem Team, das am meisten Baumwolle pflückte, erhielt jeder eine Tasse Zucker. Diejenigen Sklaven hingegen, die weniger als 113 Kilogramm Baumwolle pro Tag ernteten, wurden mit Peitschenhieben bestraft.

Viermal versuchte Louis Hughes von der Baumwollplantage seiner Herren zu fliehen, viermal wurde er erwischt und ausgepeitscht. Im Juni 1865 floh Louis Hughes zum fünften Mal – und war endlich frei. 1865 endete auch der amerikanische Bürgerkrieg, und die Sklaverei in den USA wurde am 18. Dezember mit Inkrafttreten des 13. Verfassungszusatzes offiziell abgeschafft – doch Schwarze wurden weiterhin behandelt wie Menschen zweiter Klasse und waren Rassismus ausgesetzt. Als Resultat verschwand die amerikanische Baumwolle vom Markt.

Ohne sie verloren Hunderttausende Europäer ihre Arbeitsplätze in den Fabriken und Manufakturen, Rohstoffnachschub kam aus Ägypten, Indien und Brasilien. Die europäischen Mächte zwangen Pachtbauern in den Ko­lonien, Baumwolle anzubauen, und die Ungleichheit ging weiter. Auch heute noch.

Laut dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sind rund 75 Prozent der Baumwollproduzenten Kleinbauern mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von zwei bis vier Hektar, deren Erträge meist nicht ausreichen, um sie und ihre Familien zu ernähren.

In Indien etwa leihen sich viele Bauern Geld, um Baumwollsamen zu kaufen – das teure genveränderte Saatgut, das sich nicht vermehren lässt –, schlechtes Wetter allerdings kann die Ernte zerstören. Noch dazu gibt es heute ein ständiges Überangebot an Baumwolle, weshalb der Preis stark gefallen ist. Laut dem Online-Finanzportal finanzen.net lag der Baumwollpreis 1995 noch bei einem Euro pro 0,4536 Kilogramm, zurzeit liegt er bei 50 Cent. Die Schulden der Bauern wachsen, viele können das Geld, das sie sich für das Saatgut leihen, nicht zurückzahlen. Mehr als 300.000 Baumwollbauern haben sich seit 1995 das Leben genommen, viele hinterlassen Frauen und Kinder.

Zahlreiche Ini­tiativen setzen sich heute für faire Preise ein

Die Nachfrage ist groß, denn Baumwolle ist einer der beliebtesten Stoffe: In der Saison 2019/2020 wurden laut Bremer Baumwollbörse fast 26 Mil­lionen Tonnen Baumwolle erzeugt, am meisten in Indien, China und den USA. 2017 importierte Deutschland 500.000 Tonnen Baumwolltextilien im Wert von 10,6 Milliarden Euro.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Ini­tiativen, die sich für faire Baumwollpreise einsetzen und für bessere Arbeitsbedingungen. Der Global Organic Textile Standard etwa kennzeichnet nachhaltig produzierte Textilien mit einem Anteil von mindestens 70 Prozent kontrolliert biologisch hergestellten Naturfasern. Die Hersteller müssen bestimmte soziale Kriterien einhalten wie Mindestlohn, keine übermäßige Arbeitszeit oder das Verbot von inhumaner Behandlung. Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein – im Baumwollgeschäft ist es jedoch fast schon eine Revolution.

Titelbild: Buyenlarge/Getty Images

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