Ein Sommerhit, in dem ein antifaschistischer Widerstandskämpfer davon singt, in den sicheren Tod zu gehen? Das ist 2018 tatsächlich passiert, als „Bella Ciao“ zwischen Freibad, Balaton und Ballermann rauf und runter lief. Der Elektro-Remix eines jahrzehntealten italienischen Partisanenlieds (Partisanen sind Kämpfer, die nicht zu der regulären Armee eines Staates gehören) war durch die Netflix-Serie „Haus des Geldes“ zu neuer Popularität gelangt.
Die wenigsten werden gewusst haben, was sie da mitgrölen. Für die Protagonisten der gleichnamigen Graphic Novel „Bella Ciao“ hat das Lied hingegen eine tiefere Bedeutung. Es klingt nach Heimat. Sie alle leben in Frankreich, haben aber italienische Wurzeln – genau wie der Zeichner des Comics, Baru, der eigentlich Hervé Barulea heißt.
Alle Jugendliche singen die faschistischen Lieder – bis auf einen
Rund 29 Millionen Menschen verließen in der Hoffnung auf ein wirtschaftlich besseres Leben zwischen den 1860ern und Mitte der 1980er-Jahre Italien. Viele gingen ins Nachbarland Frankreich. „Bella Ciao“ handelt von ihnen. Der Comic ist eine Collage aus Szenen und Fragmenten, die von 1893 bis in die Gegenwart reichen. Vieles davon spielt sich in der industriell geprägten nordfranzösischen Region Lothringen ab, wo Baru selbst 1947 als Sohn eines italienischen Arbeiters zur Welt kam.
Da erklärt zum Beispiel ein Greis seinen staunenden Enkeln, warum auf einem vergilbten Foto ein junger Mann – sein Bruder – die Hosenbeine abgeschnitten trägt: Von ihrem hart verdienten Geld hatten sich viele italienische Migranten zu Beginn des 20. Jahrhunderts feine Lederschuhe gekauft, und die sollten nun alle sehen, um zu begreifen, dass sie keine armen Bauern mehr waren. In einer anderen Episode machen in den 1990ern zwei italienischstämmige Franzosen mit ihren Familien Urlaub auf Sardinien – und genießen es, dass sie endlich Italienisch sprechen können, ohne schief angeschaut zu werden.
Wer war jetzt noch mal die Tante von diesem einen Typen?
In einer weiteren Szene kehrt in den 1920ern eine Gruppe Jugendlicher aus einem von den italienischen Faschisten organisierten Ferienlager zurück, sie tragen begeistert die schwarze Uniform und singen faschistische Lieder. Alle – bis auf einen.
Klingt verwirrend? Tatsächlich ist „Bella Ciao“ ein Comic für Fortgeschrittene und ziemlich voraussetzungsvoll erzählt. Man muss ein wenig Freude daran haben, das Geschehen zu entschlüsseln, und Baru hilft nur bedingt dabei, seine komplex inszenierten Szenen aufzulösen, in denen immer wieder andere, sich teilweise ziemlich ähnlich sehende Figuren auftreten.
Wer war jetzt noch mal die Tante von diesem einen Typen? Und gehört sie zur gleichen Generation wie der Großvater aus der Episode davor? Vieles muss man sich selbst erschließen, so auch den formalen Kniff, dass man an der Art, wie die Texte in den Sprechblasen geschrieben sind – in Normal- oder GROSSSCHREIBUNG – erkennt, ob gerade Italienisch oder Französisch gesprochen wird.
Nach und nach erhellt sich das Geschehen aber. Und liest man den Band einfach noch ein zweites Mal, so entblättern sich immer mehr Details, taucht man immer tiefer ein in diese Geschichten von Herkunft und Identität. Der Strich, mit dem Baru diese Schicksale und Lebenslinien einfängt, ist detailliert, aber zugleich leicht und dynamisch. Seine Figuren sind ausdrucksstark, der Wechsel zwischen schwarz-weißen und in blassen Aquarellfarben gehaltenen Episoden sorgt zusätzlich für Abwechslung.
„Bella Ciao“ wurde wohl erst später zu dem ikonischen Lied, das es heute ist
Ein beherrschendes Thema ist der Riss, der sich durch die italienische Diaspora zieht und der selbst viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verheilt ist: Auf der einen Seite die Anhänger des faschistischen Diktators Mussolini, auf der anderen die Demokraten und Kommunisten.
Das titelgebende Lied „Bella Ciao“ taucht dabei immer wieder auf, und auch seine Herkunft wird neu verortet: Gesungen wurde es, wie Baru erzählt, ursprünglich mit einem anderen Text von Reispflanzerinnen aus dem italienischen Norden. Die antifaschistischen Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg sangen es hingegen vermutlich fast nie. Zu dem italienischen Partisanenlied wurde es wohl erst nachträglich in den 1960ern konstruiert.
Was ist wirklich passiert, was in der Rückschau verändert worden? Diese Frage durchzieht den Comic. Denn so nah an der Realität vieles in „Bella Ciao“ gebaut sein mag, es bleibt ein Spiel mit den Ebenen der Erinnerungsarbeit, wie Barus Alter Ego, das auf den letzten Seiten des Buchs eine Portion Nudeln kocht, auch offen zugibt.
Zwei weitere Bände von „Bella Ciao“ hat der Autor angekündigt. Es bleibt ihm also noch reichlich Gelegenheit, die vielen losen Erinnerungsfäden zu verdichten – und munter neue zu spinnen.
„Bella Ciao“ (Band 1, 136 Seiten, 20 Euro) von Baru, übersetzt von Uwe Löhmann, ist bei Edition 52 erschienen.