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„Für Pornosüchtige ist das Internet die Hölle“

In der autobiografischen Graphic Novel „XES“ schreibt Florian Winter über ein stigmatisiertes Krankheitsbild: die Sexsucht

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XES, Sexsucht, Comic

fluter.de: Herr Winter, vergangenes Jahr hat die WHO beschlossen, Sexsucht als Krankheit anzuerkennen. Was bedeutet das für Sie?

Florian Winter: Für mich persönlich ist das irrelevant. Ich beschäftige mich ja schon ziemlich lange mit dem Thema. Vielleicht wird es jetzt aber für Ärzte und Therapeuten leichter, die Sexsucht als Krankheit zu akzeptieren. Ich kenne Geschichten, da bekamen manche Dinge zu hören wie: „Ach, Sie befriedigen sich soundso oft selbst? Das ist doch normal, Sie sind ja ein Mann.“

Woran erkennt man Sexsucht?

Bei einer Sucht benötigt man eine ständige Dosissteigerung. Ich hatte angefangen mit den „Playboy“-Heften meines Onkels. Also „nur“ nackte Frauen. Dann kam irgendwann die Phase, in der ich beschämt in einen Kiosk gegangen bin und selbst Heftchen gekauft habe. Videopornografie gab es damals noch gar nicht. Oder zumindest nicht so verfügbar, dass ich mich getraut hätte, das zu kaufen. Erst als ich allein gelebt habe, mit Anfang 20, habe ich mich zum ersten Mal in einen Sexshop getraut. Ich bin immer abends gegangen, um bloß nicht erkannt zu werden. Mit 30 gingen die Bordellbesuche los. Das war das Beschämendste überhaupt.

„Ich beurteile meine Sexualität jetzt als Krankheit – das war wichtig, denn eine Krankheit kann man heilen“

Wo hat die Sucht Ihr Leben am stärksten beeinflusst?

Das macht die wohl krasseste Stelle im Buch deutlich: Da sitzt meine Tochter in der Badewanne, und ich sitze im Nebenzimmer am Laptop und gucke Bilder. Diese Szene zeigt, wie die Krankheit dazu führt, dass man den Alltag nicht mehr wahrnimmt, sondern immer nach Lücken sucht. Ich wusste, meine Tochter sitzt jetzt für 20 Minuten im Badezimmer, dann kann ich kurz was angucken. Dieses Lückensuchen hat bei mir die meiste Zeit ausgemacht. Ich habe nicht stundenlang Pornografie geguckt, ich war mehr damit beschäftigt, das zu planen, mich zurückzuziehen, mit Leuten nichts zu tun zu haben und alles andere als tendenziell anstrengend zu empfinden. Total isolierend. Und das hat auch Beziehungen zerstört.

Ihr Protagonist sitzt im Buch öfter mal vor dem Laptop: Welche Rolle hat das Internet bei Ihnen gespielt?

Für Pornosüchtige ist das Internet die Hölle. Da gibt es keine Begrenzung. Ich habe es eine Weile mit Kindersicherungen oder so was versucht. Es hat nicht funktioniert, ich bin noch trickreicher geworden. Da ging es dann schon nicht mehr um das Bild an sich, sondern darum, wie man es schafft, da ranzukommen.

Wie wurde Ihnen selbst klar, dass Ihr Konsum von Pornos und die Häufigkeit der Bordellbesuche nicht mehr „normal“ waren?

Das war in einem therapeutischen Gespräch. Das Thema war wieder einmal Sexualität und die Frage: Wieso kriege ich es nicht hin, in einer Beziehung zu leben, obwohl ich das will? Ich kreiste immer wieder um die gleichen Fragen. Irgendwann habe ich gesagt: Ich komme so nicht weiter, ich muss das anders betrachten. Jetzt beurteile ich meine Sexualität als Krankheit. Das war ein harter Schritt. Da kriegt man Angst, wenn das Wort „krankhaft“ im Zusammenhang mit „Sexualität“ fällt. Aber es war wichtig, denn eine Krankheit kann man heilen. Dann hat der Therapeut eine Broschüre aus der Schublade gezogen und gesagt: „Hier, da gibt es Selbsthilfegruppen.“

„Als ich meiner Sexsucht nicht nachgegeben, sondern stattdessen jemanden aus der Gruppe angerufen habe, war das wie ein Wunder für mich“

Und dann?

In den Gruppen machten wir die Arbeit in zwölf Schritten, die man von den Anonymen Alkoholikern kennt. Das wird ja oft belächelt, dieses: „Hi, ich bin soundso und mein Problem ist blablabla.“ Aber die Leute, die in den Gruppen sitzen, sind alle froh, dass sie da sind. 90 Prozent sagen: „Das hat mein Leben gerettet.“ Deshalb verstehe ich gar nicht, wieso diese Gruppen so schlecht dastehen in unserer Gesellschaft.

Warum hilft diese spezielle Form von Therapie so vielen Süchtigen?

Die Gemeinschaft ist ein sehr wichtiger Aspekt. Raus aus der Isolation! Und aus dem narzisstischen Glauben, man sei der einzige Mensch, der das hätte. Das ist heilsam. Dann gibt es bei den S.L.A.A. [Anm. d. Red.: Englisch für „Sex and Love Addicts Anonymous“, Anonyme Sex- und Liebessüchtige] das zentrale Element der höheren Macht. Da geht es darum, den Willen abzugeben. Ganz viele Menschen merken: „Okay, da ist was komisch.“ Und dann denken sie: „Jetzt noch einmal, und ab morgen ist alles anders.“ Das funktioniert aber nicht. Man muss den Willen an eine höhere Macht, eine Art Gott abgeben. Das irritiert viele Leute. Es ist aber kein kirchlicher Gott. Der Gott ist für alle etwas anderes. Für mich war es am ehesten das Gruppengewissen. Als ich mich entschieden habe, der Sucht nicht nachzugeben, sondern stattdessen jemanden aus der Gruppe anzurufen, war das für mich wie ein Wunder.

In Ihrem Buch thematisieren Sie auch den Umgang der Medien mit dem Thema Sexsucht. Mit Boulevardschlagzeilen wie zum Beispiel „Porno-Pfarrer kastriert sich selbst“.

Diese Schlagzeilen gab es so nicht, ich wollte das überhöhen. Aber wenn ich etwas in der Richtung gelesen habe, dachte ich immer: „Oh, das sind Leute, die den Absprung nicht geschafft haben.“ Ob sie tatsächlich süchtig waren, kann ich nicht beurteilen. Ich habe aber oft das Gefühl.

Warum haben Sie dieses Buch gezeichnet?

Das Buch ist für mich ein Genesungsbuch – und Teil des Zwölf-Schritte-Programms. Der vierte Schritt lautet: „Wir machen eine Inventur in unserem Inneren.“ Alles, was man im Buch sieht und liest, ist meine Sucht- und Genesungsgeschichte. Ich hatte erst nicht vor, das zu veröffentlichen. Das kam später: Der zwölfte Schritt des Programms lautet sinngemäß: „Wir versuchen, unsere Erfahrungen an andere Sex- und Liebessüchtige weiterzugeben.“ So erreiche ich hoffentlich viele Menschen, die dasselbe Problem haben und dadurch eine Gruppe finden. Und andere werden für das Thema sensibilisiert.

„XES“ von Florian Winter ist im avant-verlag erschienen und kostet 25 Euro.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.