In den 1970er-Jahren wurden in der Sowjetunion so wenige Kinder geboren, dass der Staat ein Berufsverbot für Frauen aussprach. Fortan waren ihnen 456 Berufe untersagt, die als gefährlich „für die reproduktive Gesundheit“ galten. Heißt: Frauen sollten nicht körperlich arbeiten, sondern gebären und erziehen. (Also auch arbeiten, aber unbezahlt.)
Das Berufsverbot wurde seitdem immer wieder leicht überarbeitet, aber erst Anfang 2021 grundlegend aktualisiert: Nun sind „nur noch“ 100 Berufe verboten. Frauen dürfen beispielsweise weiterhin keine Brände löschen, Tunnel bauen oder Kanalisationen reinigen. Dafür steht ihnen der Weg in viele andere Berufe offen. Und damit auch in eine gleichberechtigtere russische Gesellschaft – wie diese sechs Russinnen berichten, die vom Berufsverbot betroffen waren oder sind.
„Lkw-Fahren ist für mich Meditation“
Jewgenija Markowa, 36, Fernfahrerin aus Moskau
„Ich wollte schon als Mädchen Fernfahrerin werden, Autofahren habe ich immer geliebt. Als ich die Schule beendet habe, war das aussichtslos: Mädchen wurden nicht mal zur Ausbildung zugelassen. Ich machte zwei Universitätsabschlüsse, wurde IT-Spezialistin, arbeitete bei dem Softwareunternehmen Kaspersky. Meinen Traum habe ich aber nie aufgegeben.
Mir wurde klar, dass wir Frauen nicht von Männern oder Arbeitgebern diskriminiert werden, sondern von einem System, das an einem gestrigen Berufsverbot festhält. 2017 engagierte ich mich mit anderen Frauen für die Aufhebung des Verbots. Damals gab es in Russland etwa 20 Fernfahrerinnen. Wir drehten Aufklärungsvideos, traten im Europäischen Parlament und auf einer OSZE-Konferenz in Warschau auf. Heute machen meinen Job ein paar Hundert Frauen in Russland.
Ich fahre seit vier Jahren Lkws, Sattelschlepper und Sattelauflieger und arbeite auf Rotationsbasis: 40 Tage unterwegs, 20 Tage frei und wieder von vorn. Meist fahre ich Lebensmittel, Fertigwaren, Post, manchmal Blumen.
Meine Lieblingsroute ist die Transsib-Strecke zwischen Kultuk und Ulan-Ude. Die Serpentinenstraße führt hinauf in die Berge, dann hinunter zum Baikalsee. Es ist der schönste Ort der Welt. Lkw-Fahren ist für mich Meditation.
Neulich ging mein Laster auf der Autobahn kaputt, die 30 Grad minus im Ural-Frost hat es wohl nicht verkraftet. Ich musste einen Mechaniker anrufen und einen Abschleppwagen bestellen. Die Bedingungen in Russland sind oft widrig. Aber Fernfahrten in Europa? Das ist doch ein Witz! Europa ist zu schnell vorbei, dort wechseln die Länder öfter als die einzelnen Gebiete in Russland. 500 Kilometer sind keine Fernfahrt, das ist purer Stress. Meine bisher längste Fahrt war von Sankt Petersburg nach Tschita, etwa 6.700 Kilometer.“
„Brenzlige Situationen habe ich selten erlebt. Einmal öffnete sich mein Fallschirm im Flugzeug, ein anderes Mal bin ich in einer Birke gelandet“
Jekaterina Medwedewa, 19, Fallschirminstruktorin aus Jekaterinburg
„Mein Vater war Fallschirmjäger. Als ich klein war, hat er mir oft vom Himmel erzählt. Ich bin mit 16 zum ersten Mal und bis heute insgesamt 183-mal gesprungen.
Ich arbeite auf dem Flugplatz von Jalutorowsk, einer kleinen Stadt in Westsibirien. Dort warte ich die Fallschirmausrüstung und kümmere mich um Besucher, die sich auf einen Sprung vorbereiten. Es gibt in Russland durchaus Frauen, die beruflich Fallschirm springen, aber nur wenige. Beispielsweise Feuerwehrfrauen. Weil die hauptberufliche Brandbekämpfung aus der Luft Frauen bis heute verboten ist, gehen viele zur Freiwilligen Feuerwehr.
Ich mag alles am Fallschirmspringen: das Gefühl des freien Falls, wie schön die Erde von oben aussieht. Es hebt die Stimmung, gibt mir Kraft. Brenzlige Situationen habe ich selten erlebt. Einmal öffnete sich mein Fallschirm im Flugzeug, ein anderes Mal bin ich in einer Birke gelandet. Es herrschte starker Wind, und ich wiege nur 46 Kilo. Am Ende ging alles gut. Ich hielt mich am Schirm fest, kletterte hinunter. Der Baum wurde danach gefällt.“
„Klar, Räder und Autobatterien sind schwer. Aber eine Frau ist es gewohnt, ein Kind zu tragen“
Dariya Kamenskaya, 30, Inhaberin einer Autowerkstatt, Moskau
„Ich komme aus einer Akademikerfamilie. Meine Mutter ist Künstlerin, ich bin studierte Kinderpsychologin, in einem In-Viertel von Moskau groß geworden. Mit anderen Worten: Ich war ein typisches College-Mädchen.
Bis ich mit meinem ersten Auto, einem launischen Lada Samara, ständig zur Werkstatt musste. Als der Inhaber krank wurde, bot er an, mir das Geschäft zu übergeben. Mit 22 hatte ich plötzlich eine Autowerkstatt.
Mein Autoservice heißt ‚Dasha Garage‘. 90 Prozent der Kunden sind Frauen. Dass Autos ein Männerding sein sollen, ist eh Unsinn. Ich habe hier Typen, die keine Autos mit Schaltgetriebe fahren können, und Zwanzigjährige, die nur Bahnhof verstehen, wenn ich ihnen eine Reparatur erkläre. Ich biete ihnen Kurse an. Da erkläre ich, wie man ein Rad wechselt, welche Flüssigkeiten es im Auto gibt und was man bei einer Panne machen kann. Es gibt in Kfz-Berufen nichts, was nur Männer können. Klar, Räder und Autobatterien sind schwer. Aber eine Frau ist es gewohnt, ein Kind zu tragen. Warum sollte sie das nicht auch können?
Unter meiner Aufsicht arbeiten neun Männer, unter anderem mein Mann. Ich würde gerne eine Mechanikerin einstellen, aber bisher habe ich keine gefunden. Seit das Berufsverbot aufgehoben wurde, können Frauen klagen, wenn ihnen bei einem Autoservice gesagt wird, dass sie nicht eingestellt werden, weil sie ein Mädchen sind. Das wird die Branche vielleicht verändern.
Neulich war der fünfjährige Sohn einer Kundin hier. Danach hat er im Kindergarten Autowerkstatt gespielt. Da haben nur Frauen Autos repariert, er hatte ja vorher auch nur mich in der Werkstatt gesehen. Die anderen Kinder haben keine Fragen gestellt.“
„Ich werde high, wenn ich vom Dach den Sonnenuntergang beobachte“
Alexandra Schkodina, 34, Industriekletterin aus Moskau
„Mein Arbeitstag beginnt mit einer Tasse Tee und der Aussicht vom Dach. Das hilft mir, mich zu konzentrieren. Der Kletterjob ist cool, aber gefährlich. Industriekletterer müssen aufmerksam sein. Vor allem wegen des Wetters: Ist die Sonne stark, trocknen die Scheiben zu schnell. Regnet es, darf ich nicht arbeiten. Eis ist eh zu gefährlich. Einmal habe ich eine Kollegin gerettet, die Probleme hatte, sich zu sichern. ‚Du warst wie eine Superheldin‘, hat sie gesagt.
Meist reinige ich Fenster und Fassaden. Manchmal installiere ich auch Anlagen oder repariere Elemente, die schwer zu erreichen sind. Beispielsweise im 25. Stock eines Hochhauses. Mein Job erfüllt alle meine Ansprüche: Ich will an der frischen Luft sein, körperlich arbeiten und nicht ständig von einem Chef beaufsichtigt werden.
Mein Traum ist es, eines Tages ein rein weibliches Team von Industriekletterinnen zu bilden. Bislang sind eine Kollegin und ich die einzigen Frauen in diesem Beruf, die ich kenne. Die Vorurteile klettern immer mit. Manche behaupten, dass ich nur da sei, um mich interessant zu machen, andere, dass ich durch den Job nur Männer abgreifen wolle. Die Wahrheit ist: Ich werde einfach high, wenn ich den Sonnenuntergang vom Dach aus beobachte.“
„Die Aufhebung des Berufsverbots ist natürlich ein Sieg. Aber ich habe nichts gewonnen“
Swetlana Medwedjewa, 35, Schiffsmechanikerin und Kapitänin aus Samara
„Nach der Schule konnte ich mich lange nicht für einen Beruf entscheiden. ‚Warum wirst du nicht Matrosin?‘, scherzte mein Vater. 2005 habe ich meine Ausbildung zur Schiffsführerin abgeschlossen.
Alle meine Bewerbungen danach wurden abgelehnt. Ob auf Passagier- oder Tankerschiffen, ob als Praktikantin, Matrosin, Steuerfrau oder Motorenwärterin. Da wandte ich mich an das Gericht, schrieb Abgeordneten, dem Arbeitsministerium, dem Präsidenten. Ich trat bei der Seeleutegewerkschaft auf und reichte eine Individualbeschwerde beim UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau ein. Er forderte, dass ich eine Entschädigung erhalte und dass Russland die Liste der für Frauen verbotenen Berufe überarbeitet.
Heute arbeite ich als Mechanikerin. Mein Schlepper ist sehr kompakt und fährt durch die Wolga, im Auftrag einer Ölraffinerie. Es ist ein wichtiges strategisches Projekt, mehr darf ich nicht erzählen.
Die Aufhebung des Berufsverbots ist natürlich ein Sieg für die russischen Frauen. Aber ich habe nichts gewonnen. Ich war verrückt nach dem Meer, durfte es aber nicht befahren. In der Zwischenzeit habe ich Kinder bekommen. Jetzt muss ich warten, bis sie groß sind.
Viele Kapitäne entscheiden sich immer noch für männliche Besatzungen, vor allem wegen der Belästigungen an Bord. Die sind ein ernstes Problem, besonders auf langen Fahrten. Es ist schwierig, Übergriffe zu beweisen. Wenn etwas passiert, wird die Frau bestenfalls auf ein anderes Schiff versetzt. In der Branche gibt es keine Anlaufstellen für Frauen. Die brauchen wir aber, um gegen Diskriminierung und Belästigung in der Schifffahrt anzugehen. Es lohnt sich, schließlich werden jetzt mehr Frauen eingestellt.“
„Die Hauptsache: Man darf nicht Gott spielen“
Oxana Chevalier, 46, Rettungstaucherin aus Pawlodar, lebt heute in Moskau
„Als kleines Kind war ich viel am Irtysch in Nordkasachstan. Ein wilder Fluss mit vielen Strudeln. Ich war elf, als ich ein Mädchen rausgezogen habe. Seitdem habe ich diese Leidenschaft. Wenn ich jemanden ertrinken sehe, denke ich: Du bist stark, du wirst es schaffen.
Rettungstaucherin wurde ich erst mit 35. Davor habe ich viel gemacht: Akrobatin, Lehrerin, Juristin. Beim Wasserrettungsdienst bekam ich zunächst eine Stelle als Bürokraft. Um mit zu den Suchaktionen zu dürfen, arbeitete ich jedes Wochenende als Freiwillige. Nach drei Jahren wurde meine Hartnäckigkeit belohnt: eine Anstellung als Rettungskraft, an der Krim-Brücke in Moskau.
Dort gab es immer viel zu tun. Menschen springen von der Brücke ins Wasser oder stürzen von der Böschung. Einmal habe ich sogar einen Eisbären gerettet. Er saß auf einer Eisscholle in der Mitte des Flusses, neben ihm ein Schild: „Raus aus der Arktis!“ Öko-Aktivisten kommen wirklich auf seltsame Ideen.
Ob ich bisher viele Menschen wiederbeleben konnte? Ich glaube, es waren vier. Sieben Minuten bleiben einem, um einen Ertrunkenen zu finden und wiederzubeleben. Im Winter verlangsamen sich die Prozesse im Körper, also sind es mit ein bisschen Glück 20 Minuten. In der Hochsaison haben wir manchmal vier Leute pro Schicht gerettet. Die Hauptsache: Man darf nicht Gott spielen. Jeder Retter muss wissen, dass er nur ein Mensch ist. Man soll alles geben. Aber ob man Erfolg hat oder nicht, liegt nicht an einem selbst.
In ganz Russland gibt es vielleicht vier oder fünf Frauen, die als Rettungstaucherin arbeiten. Fast alle inoffiziell. Das Berufsverbot besteht eigentlich bis heute, die Änderungen im Januar haben unserem Berufsstand nichts gebracht. Im März 2017 wurde auch mir untersagt, als Rettungstaucherin zu arbeiten. Danach habe ich in Italien und Frankreich gearbeitet, mich zur Berufstaucherin ausbilden lassen und in Russland ein Ausbildungszentrum für angehende Wasserretter gegründet.“
Collagen: Renke Brandt