Selten war mir ein im Grunde unpassender Anruf so willkommen: Er kam, als ich in einer Besprechung mit meiner Chefin saß. Aus dem „kurzen Meeting“, das sie angekündigt hatte, war mal wieder ein sehr, sehr ausführliches, waberndes Geplapper geworden, bei dem längst alles gesagt worden war, und das im Grunde auch schon von jedem. Dann – endlich! – klingelte mein Telefon. Unter gespieltem Bedauern verließ ich den Besprechungsraum, nahm direkt vor der Glastür das Telefonat an, schlenderte ums Eck und setzte mich erst einmal in die Kaffeeküche und schwieg.
„Fake Conversation“ heißt die ebenso simple wie alberne iOS-App, die mir diesen moralisch nicht ganz astreinen Abgang aus der Meetinghölle bescherte. Sie funktioniert ganz einfach: Man wählt den Gesprächsverlauf nach der persönlichen inhaltlichen Präferenz (man kann sich von Redakteuren, Piloten oder auch Hedgefonds-Managern anrufen lassen, um vor Freunden zu glänzen), stellt einen Timer ein und wartet. Zum gewählten Zeitpunkt klingelt das Telefon und die App simuliert das gewünschte Gespräch. Selbst wenn ich also gezwungen gewesen wäre, das Telefonat im Besprechungsraum anzunehmen, wäre das Schauspiel glaubwürdig gewesen – samt der aus dem Telefon krächzenden Stimme des Anrufers.
Ein paar Tage später war ich auf der Straße einem alten Bekannten in die Arme gelaufen. Wir setzten uns in ein Café. Der bemitleidenswerte Mann war gerade auf dem besten Wege, mir meine Mittagspause mit seinen sehr langatmigen Startup-Plänen zu verleiden, als ich gar nicht so unverhofft eine SMS erhielt: Der Anrufer fragte, ob ich auch früher, nämlich sofort, Zeit für ein Telefonat habe. Ich hatte. Mit Verweis auf die Nachricht ließ ich den Bekannten samt seines geschäftsmäßigen Enthusiasmus im Café sitzen und ging.
Der Nachrichtengenerator „New Message“, der mir die rettende SMS geschickt hat, und der Gesprächssimulator „Fake Conversation“ sind nur zwei der zunehmenden Anzahl von Smartphone-Anwendungen, die einem das soziale Miteinander vereinfachen sollen. Besser gesagt: die Flucht von und vor zu viel Miteinander. Sie funktionieren nach den gleichen Grundprinzipien: Entweder eröffnen sie – wie „Fake Conversation“ und „New Message“ – sozial adäquate Auswege aus unerquicklichen Gesprächen und Situationen. Oder sie wollen helfen, unliebsamen Menschen erst gar nicht zu begegnen, wie die Apps „Cloak“ und „Time to Split“. Beide funktionieren wie eine Art Radar: Erst sucht man zu meidende Kontakte aus, dann warnen einen die Apps, wenn man sich den betreffenden Personen nähert.
Soziale Netzwerke können die Nutzer stressen
Hinter solchen Angeboten steckt die Vermutung, dass soziale Medien und insbesondere spezielle soziale Kontakte die Nutzer solcher Netzwerke stressen. Dass soziale Netzwerke ihre Nutzer jedoch nicht zwingend sozialer machen, hat der Leipziger Sozialpsychologe Markus Barth in einem aufschlussreichen Aufsatz erläutert, Titel: „Warum soziale Netzwerke nicht nur zur sozialen Belastung werden“. Barth beschreibt darin, wie soziale Medien ihre Nutzer psychisch unter Druck setzen – und auch, wie sie ausgrenzend wirken können. Er erklärt außerdem, wie Nutzer mit ihren Selbstbildern konfrontiert werden und dass diese Konfrontation mit vorgeblich erfolgreichen Bekannten „zu Enttäuschung und Unzufriedenheit führen und damit das psychologische Wohlbefinden beeinflussen“ könnte. Und dass man, also mittels kleiner Programme wie „Cloak“ und „Time to Split“, solche Frustrationen zu vermeiden versucht: nur allzu verständlich.
„Cloak“ und „Time to Split“ verknüpfen sich mit sozialen Diensten wie Instagram, Twitter, Foursquare und anderen Netzwerken. Und deshalb klappt das mit dem Meiden bestimmter Personen nur dann, wenn sie ebenfalls in diesen Netzwerken unterwegs sind und sie auch ständig nutzen, das heißt sich quasi unter den virtuellen Freunden befinden.
„New Message“ und „Fake Conversation“ entpuppen sich eher als niedliche Pennälerscherze denn als ernsthafte Retter aus zwischenmenschlicher Not: Der Gesprächssimulator hat fast ausschließlich alberne Dialoge im Sortiment: von aufgeregten Freunden, die Justin Bieber im Einkaufszentrum getroffen haben wollen, bis zu aufgebracht schimpfenden Eltern. Und bei dem SMS-Generator prangt neben dem Schriftzug „New Message“ derart penetrant ein Signet mit zwei Teufelshörnchen, dass man nicht wagen würde, engere Freunde damit hinters Licht zu führen.
Keine Privatsphäre im digitalen Raum - und im echten Leben?
Einer der Macher von „Cloak“, Chris Baker, schrieb in einer Mail an die Washington Post bereits im März 2014, der Gipfel der großen sozialen Netzwerke sei erreicht. Er sah den Moment gekommen, eine Gegenbewegung loszutreten – nach dem Motto: Wenn schon im digitalen Raum keine Privatsphäre mehr bleibt, dann soll man sie sich wenigstens im richtigen Leben bewahren – mithilfe von anti-sozialen Apps. Bloß: Die Apps, die solche Angebote bisher machen, sind mehrheitlich nicht sonderlich überzeugend. Und davon abgesehen geben auch die Nutzerzahlen einen dezenten Hinweis, wie schlimm es wirklich um den sozialen Stress steht: Keine der Apps wurde nämlich zu einem Kassenschlager; keiner der Erfinder einer solchen App wurde mit ihr reich – im Gegensatz zu Mark Zuckerberg.
Geht es eventuell auch einfacher? Könnte es zum Beispiel sein, dass die Nähe, die soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook und Instagram suggerieren, uns dazu verleitet, netter zu sein, als es gut für uns wäre? Haben wir durch die ständige Erreichbarkeit, die Messengers wie „WhatsApp“ vorgaukeln, schlichtweg verlernt, „Nein“ und „Tschüss“ oder „Gerade passt es nicht so gut“ zu sagen? Das einfach mal wieder zu tun, wäre doch viel erfrischender.