Thema – Südamerika

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Angst vor einer Tragödie

In Brasilien nimmt die Gewalt gegen Frauen, Schwarze, Indigene und Queere zu. Morde wie der an der Feministin Marielle Franco sind keine Ausnahme. Die Filmemacherin Eliane Brum befürchtet eine Tragödie

Marielles hübscher Kopf war von vier Schüssen zerfetzt worden und damit auch ihr Lächeln, bei dem sogar ich, obwohl ich sie nie kennengelernt hatte, immer Lust bekam, mit ihr zu lachen. Selbst heute noch, wenn ich ihr Bild sehe. Dann lache ich mit Marielle. Dann weine ich nicht. Sondern schreibe. 

Als mich die Nachricht vom Mord an der Politikerin und Frauenrechtlerin Marielle Franco erreichte, war ich noch in Amazonien, um von dort über die Gewalt gegen die Kleinbauern zu berichten. Eine blutrote Spur von 16 hingerichteten Landarbeitern zieht sich seit 2015 durch Anapu, eine Region, in der seit Jahren der Regenwald abgeholzt wird. 

Marielle Franco war schwarz, aus einer Favela, lesbisch. Dass Marielle so lebte, war wohl eine einzige Dreistigkeit für ihre Mörder

Seit 2015 die brasilianische Demokratie mit dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff ins Trudeln geraten ist, haben sich die Spannungen in Brasilien auf dem Land und an den Rändern der Städte verschärft. Die Erschießung von Marielle Franco, einer Stadtverordneten von Rio, war ein weiterer Schritt der extremen Gewalt in einem Land, in dem der Genozid an jungen Schwarzen und der Genozid an Indigenen Alltag sind, als könnte man mit dem Genozid leben, ohne dass damit zugrunde geht, was man Seele nennt. Die Ermordung von Marielle Franco war nur ein weiterer Schritt – über den Rand des Abgrunds hinaus. Sogar für Brasilien. 

Marielle vereinigte viele Identitäten in sich: Sie war schwarz, wie die meisten, die umkommen; sie war aus der Favela (Maré), woher die kommen, die von allem zu wenig haben. Als schwarze Frau gehörte sie dem schutzlosesten und am meisten von Gewalt betroffenen Teil der brasilianischen Bevölkerung an, als lesbische Frau war sie Teil einer weiteren, von Homophobie gepeinigten Gruppe. Aufgeladen mit all dem, was sie war – und immer sein wird –, ließ sich Marielle für die linke PSOL in den Stadtrat von Rio de Janeiro wählen. Und machte aus ihren kriminalisierten Identitäten einen Ausbruch der Möglichkeiten.

„Wir halten die Erinnerung an Marielle wach, treiben den Preis für ihren Tod in die Höhe. Weiter zu schreien hat uns davor bewahrt, die Kon­trolle zu verlieren“

Sie war die Inkarnation einer Bewegung, die aus dem Leben wie aus dem Leiden Brasiliens kommt. Marielle verkörperte einen Aufstand, der nicht mit ihr gestorben ist, obwohl er über die Jahre stets niedergeschlagen wurde. Ein Aufstand, der schöpferisch ist, kreativ und von einem anderen Brasilien träumt. Marielles Leben war wohl eine einzige Dreistigkeit für ihre Mörder, und sie wagte dabei noch zu lachen, und zwar viel, wie es Frauen tun, denen klar ist, dass Lachen auch eine Übertretung ist, wenn von uns erwartet wird, dass wir weinen.

Seit mit Dilma Rousseff die erste Frau aus dem Präsidentenpalast gejagt wurde, durch ein an den Haaren herbeigezogenes Amtsenthebungsverfahren, ist die Gewalt an den Rändern des Regenwalds, auf dem Land und in den Städten brutaler geworden. Als sei etwas, das nur mühsam eingedämmt worden war, wieder freigesetzt. Die ganze Zerstörungswut, die verdrängt worden war.

Mit der Zerstörungswut meine ich vor allem den Wunsch nach Zerstörung der weiblichen Körper und der Körper von LGBTIQ, Körpern, die sich weigern, normiert zu sein – was Präsident Bolsonaro und seine Anhänger im Wahlkampf 2018 sehr deutlich gemacht haben. Für mich gehören zu dieser Liste auch noch die Körper derjenigen, die afrikanischen Religionen anhängen und damit dem Wachsen der evangelikalen Kirchen im Wege stehen und deswegen dämonisiert werden.

Nicht von ungefähr war es eine Frau, die von Bolsonaros Anhängern im Wahlkampf angegriffen wurde: Amélia Teles. Amelinha, wie sie von den meisten genannt wird, ist eine von Dutzenden, die Anfang der 1970er-Jahre von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra gefoltert wurden, der einzige je von der brasilianischen Justiz angeklagte Folterer aus der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985). Ustra ließ damals sogar ihre zwei kleinen Kinder kommen und führte ihnen die Mutter vor, voller Urin und Erbrochenem und mit Blutergüssen am ganzen Körper. Diesem Mann gab Bolsonaro seine Stimme, als er für die Absetzung von Dilma Rousseff stimmte, und sagt von da an immer wieder, dass der Folterer sein Idol sei. Amelinha wiederum sprach in einer Aufnahme für eine Wahlkampfsendung des Oppositionskandidaten Fernando Haddad über die Folter, die sie erlitten hatte, und wurde dafür von Anhängern Bolsonaros mit dem Tode bedroht. 

 

Auch an Luana Barbosa dos Reis Santos muss erinnert werden, eine schwarze lesbische Frau aus der Peripherie, die 2016 von Polizisten ermordet wurde. Und man muss auf die schauen, die jetzt schon aus Angst um ihr Leben das Land verlassen mussten.

Die Gewalt richtet sich nicht gegen beliebige Körper, sondern gegen bestimmte. Es geht um die Kontrolle – darauf sei noch einmal hingewiesen – über die Körper, die sich nicht mehr ducken: Frauen, Schwarze, Indigene, LGBTIQ. Es war auch nicht ein beliebiges Bild, das Bolsonaro wählte, um den Karneval 2019 schlechtzumachen, sondern das von zwei schwulen Männern. Doch der Karneval hatte trotz all der vom Präsidenten angestachelten Gewalt gezeigt, dass der Aufstand noch lebt. Und wie er lebt.

Nicht mehr so tun, als gäbe es eine demokratische Normalität, ist das Gebot der Stunde, um bei Verstand zu bleiben. Der Hass in Brasilien kann jeden Moment explodieren. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Bolsonaro eine Tragödie verursacht. Und die Institutionen tun nichts, um die Bevölkerung und die Verfassung zu schützen. 

„Jair Bolsonaro hat Brasilien in ein Versuchslabor für die Perversion der Politik verwandelt. Wer das merkt, wird langsam krank“

Bolsonaro hat Brasilien in ein Versuchslabor für die Perversion der Politik verwandelt. Er hat Brasilien zu einem „Fall“ gemacht. Wer das merkt, wird langsam krank. Andere haben das Land schon verlassen, um nicht zu Märtyrern werden zu müssen. Das Schlimmste, was wir jetzt tun könnten, wäre, so zu tun, als wäre das alles normal. Oder als sei Normalität möglich unter einem Präsidenten, der Brasiliens Alltag durch die Verbreitung von Hass in sozialen Netzwerken kontrolliert. 

Die Ermittlung, wer Marielle Franco hat umbringen lassen – und aus welchem Grund –, wird nicht nur ein Verbrechens aufklären, sondern womöglich die ganze Anatomie des heutigen Brasiliens.

Die Zerstörung des Körpers von Marielle Franco, des politischen Körpers, der sich nicht unterwerfen ließ, ist der brutalste Angriff bis heute. Wir rufen „Marielle – presente!“ (Marielle – anwesend!) für unsere Würde. Aus gemeinsamer Verantwortung. Aber auch, weil wir glauben, dass dadurch vielleicht einige andere Körper davor bewahrt werden können, auf offener Straße in Brasilien von Kugeln zerfetzt zu werden. Wir halten die Erinnerung an Marielle Franco wach, treiben den Preis für ihren Tod in die Höhe. Trotz derjenigen, die auch nach Marielles Tod noch sterben mussten. Weiter zu schreien hat uns womöglich davor bewahrt, völlig die Kon­trolle zu verlieren. Wie lange noch, wissen wir nicht. Deswegen müssen wir weiter schreien. Und hoffen, dass unsere Schreie die Welt erreichen, die sich noch nicht entmenschlicht hat.

Der Text wurde von Michael Kegler aus dem Portugiesischen übersetzt. Das Titelbild von Fabio Vieira (FotoRua/NurPhoto via Getty Images) zeigt eine Hauswand zu Ehren der ermordeten Stadträtin Marielle Franco.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.