Seit fast 20 Jahren wird der Transgender Day of Remembrance begangen. Jedes Jahr am 20. November wird in zahlreichen Ländern der ermordeten Trans*- und genderdiversen Menschen gedacht. Erstmals wurde der Gedenktag zur Erinnerung an Rita Hester (1963–1998) im Jahr 1999 begangen, eine afroamerikanische Trans*Frau, die in Allston, Massachusetts, ermordet wurde. Seine Aktualität hat der Gedenktag nicht verloren. Jedes Jahr werden mehrere hundert Morde an Trans*Menschen weltweit bekannt: die meisten davon Sexarbeiter*innen und People of Color. Seit Beginn der Erfassung 2008 wurden die Namen von 2.609 Trans*Menschen verzeichnet, 325 Menschen allein von November 2016 bis Oktober 2017.

Zum TDoR hier vier Titel, die Trans*Lebensrealitäten darstellen, ohne die alltägliche Gewalt auszublenden, zu ästhetisieren oder zu exotisieren.

Roman

Sasha Marianna Salzmann: „Außer sich“, Suhrkamp 2017

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Ausser Sich

Sasha Marianna Salzmann: "Ausser Sich", Suhrkamp, Berlin 2017, 22 Euro

Mit ihrem Debütroman landete Sasha Marianna Salzmann gleich auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises. „Außer sich“ führt tief hinein in die Familiengeschichte von Ali und Anton: die Kindheit in Moskau, die Aussiedlung in die westdeutsche Provinz und die Selbstfindung in Istanbul. Als Trans*Mann macht sich Ali auf die Suche nach dem verschwundenen Bruder Anton an den Bosporus. Dort geht Ali die ersten Schritte, Männlichsein auch nach außen sichtbar zu machen: Nimmt illegal beschafftes Testosteron zu sich, beobachtet den Wandel des Körpers zu einem, der haariger, muskulöser, kantiger, tiefstimmiger wird. Was Ali antreibt, bleibt im Dunkeln – will Ali eins mit dem vertrauten Zwilling werden, ist der Bruder eine andere Facette von Alis Selbst?

„Außer sich“ erzählt längst nicht nur – und eigentlich am wenigsten – die Geschichte einer Transition, sondern fährt ein faszinierendes Panoptikum an Figuren auf, die bis in die vierte Generation vor Ali und Anton reichen. Deren Selbstfindungen spielen zwischen den Weltkriegen, in der Nachkriegszeit, in Odessa, Moskau, Czernowitz. Salzmann erzählt vom alltäglichen Antisemitismus, dem alle Generationen der Familie an jedem Ort und zu jeder Zeit standhalten mussten. Dass Ali und die Figur des Katho, eines Tänzers in Istanbul, wie beiläufig in der Gegenwart ihre Geschlechter angleichen, ist wenig exotisierend dargestellt, aber exakt in den Beschreibungen. Ein Angriff auf Katho, der als Trans*Mann einmal zusammengeschlagen wird, ist ebenso Teil der Erzählung wie Ali/Antons Betrachtungen auf sich, als der Körper seinen eigenen Weg zu gehen beginnt.

Serie

Jill Soloway: „Transparent“

Die bislang vier Staffeln erzählen das Leben von Maura, der betagten Patriarchin einer Familie. In der ersten Folge outet sie sich ihrer Ex-Frau und den drei erwachsenen Kindern gegenüber als Trans*Frau. Gedreht nach autobiografischen Erfahrungen, gelingt es Regisseurin Jill Soloway in der US-amerikanischen Erfolgsserie, die zahlreiche Preise erhalten hat, Mauras Geschichte weit über die Phasen einer Geschlechtsangleichung hinaus zu erzählen. Je mehr die Charaktere der drei Kinder entwickelt werden, des sexsüchtigen Sohnes und der (kein Witz) ebenfalls sexsüchtigen Töchter, alle nur haarscharf noch „normalneurotisch“ und mit Tiefe gezeichnet, desto unübersehbarer wird, dass Mauras eingeschlagener Weg im Vergleich zu den Allüren der jüngeren Generation geradezu alltäglich daherkommt.

Was soll eigentlich das *?

Das Sternchen (*) hinter Trans kennzeichnet im deutschsprachigen Raum als Platzhalter die Vielfalt von Trans*- und nicht binären Identitäten, wie zum Beispiel transgeschlechtlich, transsexuell, weder-noch u.a. Steht trans* auf Lateinisch für „jenseits“, werden demgegenüber Menschen, deren geschlechtliche Registrierung mit ihrem eigenen Erleben als zum Beispiel Mann oder Frau überstimmt, als cis (für lateinisch „diesseits“) bezeichnet. Ein weiterführendes Glossar ist hier, und hier geht es zum fluter-Heft Geschlechter.

Ähnlich der Sunny in der „Lindenstraße“, die 2016 als erste trans*weibliche Rolle eingeführt wurde, erhält auch Maura ihr Trans*„Faktenwissen“ von Figuren, deren Darstellerinnen selbst Trans*Schauspielerinnen sind (was in der „Lindenstraße“ Zazie de Paris übernahm, in „Transparent“ Alexandra Billings und Trace Lysette). Wenn an dieser Stelle gern entgegnet wird „Aber Zauberer müssen auch nicht von Zauberern dargestellt werden“, ist der wesentliche Unterschied der, dass zahlreiche Trans*Schauspielerinnen keine Rollen bekommen, wenn selbst die (unsagbar wenigen) Trans*Rollen überwiegend von anderen Darsteller*innen verkörpert werden. Gegen Jeffrey Tambor, der die Maura spielt, wurden jüngst Belästigungsvorwürfe laut. Er dementierte und kündigte an, die Serie zu verlassen.

Film 

Sean Baker: „Tangerine L.A.“, 2016

Ein Off-Kino-Highlight und liebevolles Porträt, gedreht mit einer Handykamera, das ein paar trans*weibliche Sexarbeiterinnen am Weihnachtsabend durch Los Angeles begleitet. Cast und Crew sind in weiten Teilen selbst trans* – Soundtrack, Kamera, Skript stammen allesamt von Menschen mit eigenen Trans*Perspektiven. Die Geschichte ist kraftvoll inszeniert mit einfachen Mitteln und aus Gesprächen mit den Darsteller*innen entwickelt. SinDee Rella (Kitana Kiki Rodriguez), eben noch im Knast, kommt durch ihre beste Freundin Alexandra (Mya Taylor) dahinter, dass ihr Freund und Zuhälter sie mit einer anderen Frau „betrogen“ hat. SinDee will ihn zur Rede stellen. Getrennt und gemeinsam jagen sie durch die Straßen von L.A. – trans*feindliche Gewalt in Form von Urin spritzenden Typen aus einem Auto heraus inklusive. Eine schnelle, berührende Geschichte über Freundschaft in harten Lebensumständen.

Sebastián Lelio: „Eine fantastische Frau“, 2016

Daniela Vega in der Rolle der Sängerin Marina verkörpert nicht zum ersten Mal eine Rolle, die in Teilen mit ihrem eigenen Leben als Trans*Frau übereinstimmt. So erzählte sie bei der Premiere des Films auf der Berlinale 2017 von der Gewalt an Trans*Frauen in Argentinien, wo die gesetzlichen Realitäten wesentlich liberaler sind als die lebensweltlichen; jede*r kann vollkommen frei bestimmen, welches Geschlecht im Pass eingetragen wird. Als Marina verliert sie zu Beginn des Films ihren wesentlich älteren Liebhaber Orlando, der in ihrem Beisein verstirbt. Daraufhin bricht eine Serie an trans*feindlichen Aggressionen gegen sie los, zunächst von der Ex-Frau des Liebhabers und deren Sohn, später von einer Polizistin, die Marina zwingt, sich öffentlich auszuziehen, als hinge der Tod des Liebhabers mit ihren Genitalien zusammen. Zum Ende findet sie ihre Stärke wieder, unterstützt durch die wenigen Freund*innen, die ihr geblieben sind.

Zum Autor:

Leo Yannick Wild, Journalist und Politikwissenschaftler, betreut für TransInterQueer e.V. die Pressearbeit und hat die „Lindenstraße“ in der Ausgestaltung der Rolle der Sunny beraten. TrIQ e.V. bietet unter anderem Beratung und zahlreiche Gruppen an, setzt sich für eine Abschaffung des Transsexuellengesetzes zugunsten eines Geschlechtervielfaltsgesetzes sowie für ein Verbot geschlechtszuweisender Operationen an intergeschlechtlichen Neugeborenen ein. Der Verein führt Kulturveranstaltungen und Trainings durch und lädt zum Gedenken am Transgender Day of Remembrance in Berlin ein.

Titelbild: kool film