Das Geschäft mit den Musikfestivals boomt seit Jahren. Längst wird es von internationalen Konzernen geprägt. Warum das die Popkultur verändert, erklären Matthias Hörstmann, der in Deutschland Lollapalooza, Melt! und Splash! veranstaltet, und Carsten Schumacher, Chefredakteur des Fachmagazins „Festivalguide“ und Organisator des unabhängigen Festivalpreises „Der Helga!®“
Der Sommer ist die Hauptsaison für Open-Air-Festivals. Was mögen die Menschen an Massenkonzerten unter freiem Himmel?
Matthias Hörstmann: Festivals gehören ja inzwischen für viele zum Lifestyle. Die Leute planen das fest in ihren Jahresurlaub ein, sie nutzen die Veranstaltungen für eine kurze Flucht aus dem Alltag, eine Art Aktivurlaub mit Gleichgesinnten. Sie können da Lieblingsbands sehen und neue Bands entdecken, mit Fremden Bier trinken, neue Leute kennenlernen – und vielleicht mit dem oder der Neuen auch gleich ins Zelt verschwinden. Dafür gibt es heute für jeden Anspruch, Bedarf und Geschmack individuelle Angebote, teils sogar maßgeschneidert auf die speziellen Interessen bestimmter Zielgruppen.
Carsten Schumacher: Und die Besucher bekommen statt vieler Einzelkonzerte gleich ein ganzes Paket für ihr Eintrittsgeld. Ein Festivalbesuch lohnt sich also für viele finanziell, selbst wenn die Tickets fortlaufend teurer werden.
Herr Hörstmann, Sie veranstalten seit mehr als 20 Jahren Festivals. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
MH: Der Markt erlebt einen andauernden Boom. So haben sich die Menge der deutschen Festivals und deren Besucherzahlen in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Als ich vor 23 Jahren beim Osnabrücker Benefizfestival „Rock gegen Rechts“ erstmals vom Fan zum Veranstalter wurde, da sahen die Rahmenbedingungen noch ganz anders aus. Unser Festival damals war im Grunde eine Protestkundgebung, bei der es einzig darum ging, mit Unterstützung von Künstlern wie Anne Clark, Slime oder Blumfeld lautstark Position zu beziehen. Der Feind war der Mainstream, darum gab es natürlich auch keine wirtschaftlichen Interessen.
Und heute?
CS: Solche Veranstaltungen gibt es heute natürlich auch noch. Aber gerade bei den Großveranstaltungen hat sich eine Menge geändert, die Festivalkultur, die Konzepte, die Konkurrenz untereinander. Es sind nicht mehr die Freaks, die das Zepter schwingen, mittlerweile sind es Aktiengesellschaften. Deren Angebot geht dann natürlich über das alte „Bühne auf Acker plus Zeltplatz“-Prinzip hinaus. Viele suchen dabei nach neuen Zielgruppen. So wollen die Veranstalter Festivals inzwischen auch für Menschen attraktiv machen, denen Zeltplatz und Dixi-Klo ein Grauen sind.
Was haben die Organisatoren denen zu bieten?
MH: Immer mehr Festivals haben etwa einen gesonderten Campingbereich mit mehr Duschen, mehr Toiletten, weniger Lärm. Viele erweitern ihr Rahmenprogramm um Lesungen, Sport, Wellness, Yoga, Kultur, Kino oder diverse Workshops. Und Festivals werden familienfreundlicher. Bei unserem Lollapalooza-Festival zum Beispiel gibt es ein Kinderzelt.
CS: Inzwischen gehen ja wirklich Menschen aller Altersklassen auf Festivals. Früher waren es hauptsächlich Anfang 20-Jährige, die nahe einer Bühne gezeltet haben, heute ist ein 40-Jähriger längst keine Seltenheit mehr. Schließlich gibt es immer mehr Menschen, die ihre Jugend und den dazugehörigen Lebensstil möglichst lang durchziehen möchten. Aber man muss auch festhalten: Das Rahmenprogramm spielt eine Rolle, am wichtigsten ist allerdings weiterhin das Gruppenerlebnis, also ob die eigenen Freunde dabei sind, dazu die gefühlte Verbindung zu den übrigen Besuchern – und natürlich nicht zuletzt die Musik.
Seit 2008 verdienen Musiker mehr Geld mit Liveauftritten als mit dem Verkauf von Platten. Und das meiste Geld verdienen sie bei Festivals. Viele legen darum sogar die Veröffentlichungsdaten neuer Alben kurz vor die Festivalsaison. Wie verändert das die Musik und die Musikbranche?
CS: Es stimmt, dass Künstler Festivalhymnen schreiben und auch sonst viel mehr für Veranstalter zu tun bereit sind. Damit folgen sie ihrer Haupteinnahmequelle, denn Musikfans wollen ja für Musikaufnahmen weniger Geld ausgeben, aber sie akzeptieren die steigenden Preise auf dem Veranstaltungsmarkt. Für manche Musiker sind Tonträger weniger interessant geworden.
MH: Damit haben sich die Rahmenbedingungen und Wertschöpfungsketten in wenigen Jahren fundamental verändert. Über Jahrzehnte hatte die Tonträgerindustrie unbestritten die Machtposition inne – heute dagegen gibt die Live-Entertainment-Branche samt Booking- und Konzertagenturen den Ton an.
Wieso sieht man auf so vielen Festivals dieselben Superstars wie U2, Metallica oder Coldplay als Headliner?
CS: Weil die Veranstalter damit sicher ihre Arenen und Wiesen füllen können. Für viele Fans sind diese lebenden Legenden attraktiv, weil die so nur noch selten nachwachsen. Und das ist zugleich eines der Grundprobleme vieler Veranstalter: Die Riege dieser Headliner ist relativ statisch, es kommen nur sehr wenige hinzu – und es sterben ja glücklicherweise auch nicht ständig welche.
Welche Folgen hat das?
MH: Alle kämpfen um dieselben Künstler – und treiben dabei die Gagen für die Headliner in schwindelerregende Höhen. Da sind jährliche Steigerungen von 20 Prozent oder mehr keine Seltenheit.
CS: Diese Entwicklung spielt denen in die Hände, die gleich mehrere Festivals veranstalten, die womöglich sogar am selben Wochenende an verschiedenen Orten stattfinden. Denn die können Paket-Deals für alle Veranstaltungen abschließen. Man kennt das Konzept von Rock am Ring und Rock im Park. Und um sich Exklusivität zu sichern, schreiben diese Veranstalter jedes Mal einen Passus in den Vertrag, der verhindert, dass die jeweilige Band innerhalb eines gewissen Radius und Zeitraums noch mal auftritt, und zwar mittlerweile sogar bei weniger gefragten Bands. Das verknappt den Markt zusätzlich.
Können es sich also irgendwann nur noch Großveranstalter leisten, Open-Air-Festivals zu organisieren? So wie in den USA, wo zwei Konzerne den Markt beherrschen – AEG Live und Live Nation?
CS: Die kleinen Festivals, deren Line-up aus ebenso kleinen Liebhaber-Bands besteht, wird es weiterhin geben. Kritisch wird es im mittleren Bereich, in dem man als Veranstalter von richtigen Headlinern abhängig ist – und sich die dann nicht mehr leisten kann. Das Serengeti-Festival in Ostwestfalen beispielsweise hat im vergangenen Jahr aus diesem Grund aufgegeben.
MH: Die Großen verdrängen oder schlucken zurzeit die Mittelgroßen. Und wer nicht mitspielt, bekommt geradezu unmoralische Angebote auf den Tisch. Viele resignieren und tun sich mit den großen Veranstalterkonzernen zusammen. Inzwischen bestimmt nicht einmal eine Handvoll globaler Player große Teile der Branche. Nur die können sich die notwendigen Headliner leisten.
CS: Hinzu kommt, dass die Politik hierzulande nach dem Unglück auf der Loveparade in Duisburg die Sicherheitsauflagen verschärft hat, aus Sorge um die Sicherheit der Besucher. Auch das kostet natürlich mehr.
Wir fassen zusammen: Die steigenden Kosten für Bookings, Sicherheit und anderes treiben die Eintrittspreise nach oben, die Nachfrage und damit die Zahl der Festivals steigt trotzdem weiter. Aber die Menschen verdienen ja nicht kontinuierlich mehr. Gibt es also eine Blase, die bald platzen wird?
CS: Das Festivalgeschäft wird sich sicher verändern, viel weiter wachsen kann es nicht. Vielleicht bleibt diese Form der Musikkultur in dieser Größenordnung bestehen, vielleicht ist es auch nur ein Trend, der vergeht. Aber bislang ist keine Festivalmüdigkeit feststellbar.
Fotos: Waldemar Salesski; Christian Schauderna / Edith Images; privat, Arne Sattler