fluter.de: Momentan hat man das Gefühl, die schlechten Nachrichten hören gar nicht mehr auf. Mich persönlich schockiert kaum noch eine Meldung. Wird uns immer alles egaler?
Claus Lamm: Gefühle haben generell eine starke Gewöhnungskomponente. Wenn ich zehn Stück Schokolade vor mir habe, löst das erste wahrscheinlich ein heftiges Verlangen aus, noch ein Stück zu nehmen. Beim dritten, vierten, fünften wird es dann weniger. Diesen Gewöhnungseffekt gibt es auch, was das Leid anderer Menschen betrifft. Und wenn es um Unglück geht, das in einer gewissen Distanz passiert, findet diese Abstumpfung umso schneller statt. Ein trauriges Beispiel hierfür ist die Flüchtlingssituation im Mittelmeer.
Die ersten Berichte haben uns noch sehr getroffen.
Richtig, aber wer zum zehnten Mal hört, dass ein Flüchtlingsboot gekentert ist, steckt diese Nachricht in die Schublade „Kenne ich schon, nichts Neues“. Wenn ich Menschen kategorisiere, indem ich zum Beispiel vom „Flüchtling“, vom „Muslim“ oder vom „Wähler dieser oder jener Partei“ spreche, dehumanisiere ich sie. Ich spreche ihnen sozusagen zu einem Teil ihre menschlichen Eigenschaften ab. Gleichzeitig reduziere ich meine Fähigkeit, mit ihnen mitzufühlen – schließlich nehme ich sie nicht mehr als Person wahr, sondern als Kategorie.
Das Attentat in München, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen, löste in Deutschland kollektive Trauer aus. Einen Tag später starben bei einem Attentat in Kabul 80 Menschen. Warum berührte das eine Leid hierzulande viele Menschen und das andere vergleichsweise wenige?
Aus Sicht der Forschung kann man das so erklären, dass wir Mitgefühl und Betroffenheit nicht auf alle Menschen gleich verteilen. Starke Verbindungen bauen wir zu jenen Menschen auf, die uns nahestehen. Ganz wichtig: Nähe kann in diesem Zusammenhang geografische Nähe bedeuten, aber auch kulturelle Nähe oder genetische.
In dem konkreten Fall waren wir also womöglich gleich mehrfach betroffen?
„Passiert etwas in Deutschland, gehen wir quasi davon aus, dass uns die Betroffenen ähnlich sind“
So ist es. Viele Deutsche haben zu München eine direkte Verbindung. Sie waren zum Beispiel schon mal in der Stadt und können sich genau vorstellen, wo das Attentat passiert ist. Der Aspekt des gleichen Kulturkreises kommt dann noch stärkend hinzu: Passiert etwas in Deutschland, gehen wir quasi davon aus, dass uns die Betroffenen ähnlich sind, und stellen deshalb eine besonders starke Verbindung zu ihnen her. Wenn dagegen etwas in Kabul passiert – wo viele wahrscheinlich erst einmal nachschauen müssen, wo das auf der Landkarte liegt –, sind die Verknüpfungspunkte in unserem Gedächtnis sehr gering. Genau diese würden aber zu Emotionen führen.
Spielt beim Beispiel München auch Angst eine Rolle?
Ja, es geht nicht nur um Empathie, sondern auch um die Frage: Was macht ein Attentat mit uns? Muss ich mein Verhalten anpassen? Fahre ich am nächsten Wochenende nach München und setze mich in einen Biergarten? Beim Attentat von Kabul fallen diese Gedanken flach. Niemand von uns fährt übers Wochenende nach Kabul und trinkt dort ein Bier.
Für Menschen, die weit weg sind – beispielsweise Flüchtlinge, die in der Türkei festsitzen –, zeigt man also eher wenig Mitgefühl. Viele Deutsche haben aber täglich mit Geflüchteten zu tun, weil sie etwa in der Nähe eines Asylbewerberheims wohnen. Müsste diese geografische Nähe nicht Empathie begünstigen?
Die geografische Entfernung fällt zwar weg, aber kulturelle Nähe besteht noch immer nicht. Ein Beispiel: Während der Jugoslawienkriege herrschte in der deutschen und österreichischen Bevölkerung sehr große Hilfsbereitschaft. Es gab etliche Hilfsprogramme, man schickte Lkw-weise Essen nach Bosnien, nahm viele Flüchtlinge auf etc. Nun könnte man sich jetzt fragen ...
... was war damals anders?
Genau, die bosnischen Flüchtlinge waren schließlich auch Fremde, sie waren auch Muslime. Der große Unterschied ist, dass ihre Kultur zu diesem Zeitpunkt schon wesentlich besser in die deutsche Gesellschaft integriert war. Es gab viele Gastarbeiter aus Serbien, aus Kroatien und Bosnien. Wir sahen die Neuankömmlinge praktisch schon als Teil von uns. Heute aber kommen Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea – also aus Regionen, zu denen wir noch keine unmittelbaren Anknüpfungspunkte haben.
Kann man Mitgefühl gegenüber Menschen aus fremden Kulturkreisen trainieren?
Ja, man kann Empathie – genauso wie jede andere Wahrnehmung – verändern und lenken. Und zwar sowohl zum Positiven als auch zum Negativen.
Wie funktioniert das?
Einerseits über einen rein kognitiven Weg, indem man versucht, an die Moral und ethischen Überzeugungen der Menschen zu appellieren: Warum sollte ich einen Syrer, der vor Bomben und Terror flüchtet, anders behandeln als einen Bosnier? Man appelliert damit an die Verbindung aller Menschen zueinander, unabhängig von Herkunft oder Religion.
Und das klappt?
„Durch persönlichen Kontakt erkennen wir: ‚Hey, Flüchtlinge sind ja auch nur Menschen wie wir‘“
Na ja, es ist nicht gerade einfach, weil dieser Weg über den Verstand verläuft und unsere moderne Medienwelt ganz häufig über Gefühle funktioniert. Eine Möglichkeit wäre aber, der Bevölkerung mehr Kontakt zu Flüchtlingen zu ermöglichen. Durch persönlichen Kontakt erkennen wir: „Hey, Flüchtlinge sind ja auch nur Menschen wie wir.“
Was passiert im Gehirn, wenn man andere Menschen leiden sieht?
Das Modell, mit dem die Wissenschaft momentan arbeitet – erschöpfend geklärt ist es noch nicht –, ist folgendes: Wenn ich das Leid einer anderen Person beobachte, dann löst das in meinem Gehirn Reaktionen aus, die auch dann da wären, wenn ich selbst in dieser Situation wäre. Am Beispiel des Schmerzes ist das schon recht gut untersucht. Ich weiß also nicht nur, dass die andere Person Schmerz empfindet, ich fühle es auch. Das ist möglicherweise auch der Schlüssel dafür, warum sich Mitgefühl relativ schnell in Altruismus umwandeln lässt: Der Bezug zum Selbst wird fast unmittelbar hergestellt.
Manchmal bin ich von einer Nachricht zwar betroffen, versuche aber trotzdem nicht, etwas an der Situation zu ändern. Woran liegt es, dass man einmal Einsatz zeigt und ein anderes Mal nicht?
Wenn ich viel Mitgefühl empfinde, ist auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass ich handle. Aber es spielen auch ganz andere Faktoren eine Rolle: Hab ich überhaupt die Ressourcen oder die Fähigkeit, einer Person zu helfen? Gibt es andere Personen, die eigentlich vor mir helfen sollten? Berufe ich mich zum Beispiel darauf, dass die Flüchtlingsproblematik nicht mein Bier ist, sondern vom Staat gelöst werden sollte? Unser Einsatz hängt stark von Überzeugungen ab und davon, wie gut oder schlecht die Ausreden sind, die wir finden.
Als Professor am Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie in Wien beschäftigt sich Claus Lamm vor allem mit dem menschlichen Sozialverhalten. Der Titel seiner Antrittsvorlesung 2001 ist auch programmatisch für seine Forschung: „Von Empathie zu Altruismus: Ein interdisziplinärer Erkenntniszugang“
Titelbild: Jörg Brüggemann/OSTKREUZ