Man kann nur hoffen, dass es kein schlechtes Omen ist, einen Asteroiden nach dem Online-Lexikon Wikipedia zu benennen. Denn wenige Angebote im Internet haben so eingeschlagen: 1,5 Millionen Seitenaufrufe in der Stunde zählen die Betreiber allein auf der deutschsprachigen Seite. 72 Prozent aller Internetnutzer ab zehn Jahren in Deutschland schlagen nach bei Wikipedia und anderen Online- Lexika. Fast jeder Schüler und Student hat sie schon mal für ein Referat benutzt, auch wenn Lehrer das nicht so gern sehen. Was heute so selbstverständlich klingt, dass nämlich Informationen kostenfrei zur Verfügung stehen, war zum Start der Wikipedia vor etwas mehr als zwölf Jahren noch Utopie. „Stellen Sie sich eine Welt vor, in der das gesamte Wissen der Menschheit jedem frei zugänglich ist“, appellierte der Mitgründer Jimmy Wales, wie immer sehr emotional, anlässlich eines Spendenaufrufs an die Nutzer.
Von Anfang an machen Kritiker Front gegen das Projekt. Sie stellen vor allem die Qualität der Beiträge infrage, da neben Experten auch sehr viele Laien an den Artikeln mitschreiben. Die sogenannte Schwarmintelligenz könne niemals so vertrauenswürdig sein wie die traditionellen Enzyklopädien, sagen Skeptiker. Doch heute gilt das Online-Lexikon als mindestens ebenso zuverlässig und hochwertig wie die Standardwerke. Die alten Klassiker konnten mit der kostenfreien Konkurrenz aus dem Netz nicht mehr mithalten. Ausgedient haben auch die für die große Öffentlichkeit unsichtbaren Eliten, die jahrhundertelang bestimmt haben, was zum Wissenskanon der Gesellschaft gehört und was irrelevant ist. Mehr als vier Millionen Artikel zählt die englischsprachige Version, die deutsche Wiki-Gemeinde folgt im Ländervergleich auf Platz zwei mit mehr als anderthalb Millionen. Hunderttausende schreiben und korrigieren weltweit ständig daran mit, um die Sammlung zu vervollständigen.
Wiki bedeutet, dass ein Text nicht nur gelesen, sondern im Browser auch gleich geändert werden kann. Im Hawaiianischen heißt wiki schnell
Nicht alle Artikel sind gleich verlässlich. Oft sind die Quellen nicht glaubwürdig, Regierungen und Politiker zensieren Einträge, Unternehmen machen Schleichwerbung, und wer geschickt ist, kann auch Unsinn verbreiten. Die Verantwortlichen der Wikimedia-Stiftung und all die freiwilligen Helfer stellen sich aber der Kritik. Der Wikipedia-Artikel „Kritik an Wikipedia“ ist noch ausführlicher als der Beitrag über Wikipedia selbst. Wie gut oder schlecht die Einträge sind, ist aber nicht das Einzige, was das Publikum und die Wissenschaft beschäftigt. Es ist vor allem die Idee, dass jeder mitmachen kann, die die Kommunikationswissenschaftler, Soziologen, Psychologen und Vertreter vieler anderer Disziplinen interessiert. Beim Projekt „Netzwerkkommunikation im Internet“ untersucht Wolf-Andreas Liebert, Sprachwissenschaftler von der Uni Koblenz-Landau, wie Wissen innerhalb von gleichberechtigten Gruppen produziert und verbreitet wird. „Insgesamt kann Wikipedia als ein gesellschaftlicher Prozess der Demokratisierung und Partizipation verstanden werden“, sagt Liebert. Die Online-Enzyklopädie und andere ähnliche Projekte kämen Bürgern entgegen, „die politischen Institutionen kritisch gegenüberstehen und Formen bevorzugen, bei denen sie eigenmächtig handeln können.“
Weil das Internet im Allgemeinen und Wikipedia im Speziellen die Gewohnheiten, mit Informationen umzugehen, verändert hat, stellen einige Wissenschaftler die Erfindung auf eine Stufe mit der des Buchdrucks. Der Gesellschaft stünde demnach eine Revolution bevor, vergleichbar mit dem Wandel, der die westliche Kultur seit dem Ende des Mittelalters erfasst hat. Nach der Gutenberg-Galaxis könnten wir uns jetzt in einem Wikipedia-Universum befinden, wie die Medienwissenschaftlerin Daniela Pscheida vermutet. Ähnlich sieht das wohl auch der Gründer Jimmy Wales. In einer Videobotschaft ruft er die Nutzer dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass Wikipedia von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt wird.
Dafür könnte es aber noch zu früh sein. In der Gemeinde brodelt es. Was lange Zeit gut funktioniert hat und Wikipedia so erfolgreich gemacht hat, wird langsam zum Problem. Dass die User selbst entscheiden können, welche Inhalte wichtig sind oder draußen bleiben sollen, was fehlerhaft oder unvollständig ist. Denn innerhalb der vermeintlich demokratischen Gemeinschaft haben sich Machtstrukturen herausgebildet, die eisern über die Beiträge und den gesamten Wissensstand wachen. „Es herrscht Neid, Kämpfe werden ausgefochten“, sagt der Soziologe und Wikipedia- Experte Christian Stegbauer. Er ist überzeugt von der Idee einer überall verfügbaren Enzyklopädie, sieht in den Arbeitsweisen innerhalb des Mikrokosmos aber auch Gefahren. Wenn die Autoren auch keinen Cent bekämen, seien doch viele stolz auf ihre Beiträge und sähen es nicht so gerne, wenn andere daran herumpfuschen.
Wer schon viele Artikel verfasst hat oder an vielen mitgearbeitet hat, nimmt in der Hierarchie eine höhere Position ein als Nutzer mit wenig oder gar keinen Beiträgen. Viele vermeintlich irrelevanten Artikel werden mehr oder weniger automatisch gelöscht. Den Freiwilligen fällt es da schwer, überhaupt noch einen Beitrag zu leisten. Das frustriert. Kein Wunder, dass die Zahl der Autoren in den vergangenen Jahren weltweit zurückgegangen ist. Damit verliert Wikipedia seine wichtigste Ressource – die Intelligenz der Masse. „Wenn das so weitergeht, könnte die Zuverlässigkeit nachlassen“, sagt Stegbauer. Sollte die Attraktivität auch für Leser nachlassen, sei vorstellbar, dass irgendwann eine Alternative das Monopol von Wikipedia herausfordern könnte.