Dmitri ist ein Schlaks mit leicht abstehenden Ohren und schmalen blauen Augen. Ein abgebrochener Informatikstudent aus Donezk. Er hatte gerade begonnen, mit einem Freund Ziermauern aus Beton zu gießen und zu verkaufen, als er beschloss, in den Krieg zu ziehen. „Die Nazis, die in Kiew die Macht übernommen haben, wollen alles Russischsprachige vernichten“, sagt er.
Dmitri, 21, macht bei diesen Worten kein böses Gesicht. Auch nicht, als er erzählt, dass er aus Entfernungen von über 500 Metern auf Menschen schieße. Dmitri ist jetzt Scharfschütze eines Donezker Rebellenbataillons. „Weit über 50 Treffer“, habe er schon gelandet, erzählt er stolz. Von der überlegenen Kampfmoral der Rebellenarmee ist er überzeugt. „In drei Wochen wären wir in Brüssel“, sagt er.
Was Dmitri und andere Kämpfer und Anhänger der prorussischen „Rebellenrepubliken“ im Osten der Ukraine sagen, deckt sich mit dem, was das russische Staatsfernsehen in Endlosschleife über die Grenze sendet: Demnach ist die vom demokratisch gewählten Staatspräsidenten Petro Poroschenko geleitete Regierung in Kiew eine faschistische Junta, die von Amerika gelenkt wird. Einem Amerika, das kurz vor dem wirtschaftlichen Ruin stehe, weshalb Washington einen Krieg gegen Russland angezettelt habe. „Der Schwache greift immer den Starken an“, erklärt Dmitri.
Von rund 48 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine waren nach der letzten offiziellen Volkszählung von 2001 fast 78 Prozent ethnische Ukrainer, gut 17 Prozent ethnische Russen. Letztere leben vor allem in Regionen, die in den vergangenen Monaten umkämpft waren: in Luhansk (39 Prozent) und in Donezk (38,2 Prozent). Der Grund dafür: Als die Region Ende des 19. Jahrhunderts industrialisiert wurde, kamen viele Russen in die dort entstehenden Städte. Inwieweit die ursprüngliche ukrainische Bevölkerung später unter Stalin in Teilen vertrieben oder ermordet wurde, darüber streiten bis heute Historiker.
Die Sprache sagt in der Ostukraine wenig darüber aus, auf welcher Seite man steht. Auch gegen die Separatisten kämpfen Männer und Frauen, die Russisch sprechen. Man hat ja auch seit der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 friedlich zusammengelebt. Die Bergwerke in der Region belieferten das ganze Land mit Kohle, man war stolz auf die im Verhältnis zu Russland hohen Löhne, stolz auch auf den Fußballverein Schachtar Donezk, der mit dem Geld des reichsten Menschen der Ukraine, des Oligarchen Rinat Achmetow, in der Champions League mitspielt.
Unruhige Zeiten: Anschläge, umstrittene Verurteilungen, Vorwürfe der Wahlfälschung
Doch mit dem Beginn des neuen Jahrtausends kam eine Zeit der Unruhe. Westlich und russisch orientierte Politiker warfen sich gegenseitig Wahlfälschungen vor, auf den europa-freundlichen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Juschtschenko wurde gar ein Giftanschlag verübt. Die Korruption nahm zu, die Ministerpräsidentin Julia Timoschenko landete 2011 wegen Amtsmissbrauchs im Gefängnis – für viele ein politisches Urteil. Der 2010 gewählte russlandtreue Wiktor Janukowitsch versagte schließlich einem europäischen Assoziierungsabkommen, durch das sich die Ukraine wirtschaftlich der EU angenähert hätte, auf Druck von Moskau hin die Zustimmung – woraufhin es zu den Protesten auf dem Maidan in Kiew kam. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten kamen vor einem Jahr etwa 100 Menschen um.
Janukowitsch floh, im Juni vergangenen Jahres wurde Petro Poroschenko in einer freien Wahl zum Staatspräsidenten gewählt. Zuvor hatte Russland die Krim besetzt – unter dem Protest der Staatengemeinschaft. Viele Ukrainer befürchten nun, dass dem Donbass das gleiche Schicksal wie der Krim droht, schließlich haben die Separatisten – wohl auch dank der Unterstützung durch Russland – im Februar 2015 militärisch die Oberhand gewonnen.
In den Verbänden der ukrainischen Armee befinden sich auch Unterstützer aus westlichen Landesteilen, die fast 1.000 Kilometer hierher gereist sind, um die territoriale Integrität ihres Landes zu verteidigen: Männer, die schon in die Straßenschlachten auf dem Maidan gezogen sind, wie Andrej, ein früherer IT-Spezialist, der jetzt Aufklärungsdrohnen für die Front organisiert. „Sonderbar“, sagt er. „Beide Parteien sind völlig überzeugt, im Recht zu sein: Die Separatisten verteidigen ihre Erde gegen uns, wir verteidigen unsere Erde gegen die russische Armee.“ Auf dieser Erde wurde einst gemeinsam ein anderer Feind geschlagen: Nazideutschland. Das Andenken an den Zweiten Weltkrieg – den „Großen Vaterländischen Krieg“, ist bei vielen Menschen präsent – was vom Staatsfernsehen aus Moskau propagandistisch genutzt wird. Auch jetzt sind in der Wahrnehmung mancher Ukrainer die Gegner wieder „Faschisten“ – wie damals im Krieg gegen Hitler-Deutschland. Und dass man Faschisten besiegen könne, habe die Geschichte gezeigt.
„Das ist einfach eine Bande Kleinkrimineller“
Der 25-jährige Wladimir, wie Dmitri Soldat der Rebellenarmee, erzählt von seinem Urgroßvater, der im Krieg gegen die Deutschen gekämpft habe, in Gefangenschaft geriet und bei seiner Freilassung nur noch 43 Kilo wog. Viele Leute hier erzählen ähnliche Familiengeschichten. Und sie glauben den russischen Fernsehsendern, die das Grauen und den Opfermut des Krieges gegen Hitler in die Gegenwart verlängern – mit Meldungen von Dörfern im Donbass, in denen die Ukrainer Männer, Frauen und Kinder umbringen. Unabhängige Sender sind in der Region kaum noch zu empfangen. Das Land ist nach Monaten des Krieges zerrissen, Städte wie Donezk oder Debalzewo teilweise zerstört. Im Februar war die ukrainische Armee auf dem Rückzug. Tausende Soldaten und Zivilisten sind tot, und weil die Regierung in Kiew die Region mit einer Blockade belegt hat, bekommen viele der Bewohner schon seit Wochen keine Löhne oder Renten mehr.
Wie sehr die Parolen des russischen Staatsfernsehens noch immer verfangen, merkt Ira aus Kramatorsk immer dann, wenn sie mit ihrer Verwandtschaft in Sibirien spricht. Am Telefon diskutiert sie oft mit ihren Tanten aus dem russischen Tomsk, die ihr von den neuesten russischen Fernsehberichten über Gräueltaten der Ukrainer berichten: „Schrecklich, in einem Dorf bei euch haben diese Faschisten alle Männer ermordet und alle Frauen vergewaltigt.“ „Klasse“, antwortet Ira dann. „Das ist doch besser als umgekehrt.“ In diesen Zeiten hilft ihr nur noch schwarzer Humor. Die 21-Jährige kann die pro- russischen Separatisten nicht ausstehen, schon weil sie das Autohaus, in dem sie als Managerin arbeitete, gestürmt und alle Wagen mitgenommen haben. „Das ist einfach eine Bande Kleinkrimineller“, sagt sie. Ira will in keiner isolierten Volkskriegerrepublik leben, sie will auch nicht in Russland leben, sie will genauso Europäerin sein wie die jungen Ukrainerinnen in Kiew oder Lemberg.