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„Ich wollte herausfinden, wie mein Leben verlaufen wäre“

Im Roman „Der Morgen gehört uns“ erzählt der italienische Autor Davide Coppo die Geschichte des 14-jährigen Ettore, der Anschluss in einer faschistischen Jugendorganisation findet – ähnlich wie Coppo einst als Teenager

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 Mitglieder einer faschistischen Organisation feiern in ihrem Clubhaus „Skinhouse“ am Rande von Mailand

fluter.de: In Ihrem Roman geht es um den 14-jährigen Jugendlichen Ettore, der seinen Platz in der Welt noch sucht. Er scheint ihn dann in einer faschistischen Jugendgruppe zu finden und radikalisiert sich immer mehr. Als Leserin ahnt man: Das wird nicht gut ausgehen. Warum haben Sie diese Geschichte geschrieben?

Davide Coppo: Als Teenager habe ich eine ähnliche Erfahrung gemacht. Nicht so wie Ettore, bei mir war es anders und kürzer als im Buch. Ich wurde nicht gewalttätig, habe keine Straftaten begangen. Glücklicherweise fand ich da einen Weg heraus. Ich habe mich zwar mit neofaschistischen Ideologien beschäftigt, aber man kann wohl nicht von einer echten Radikalisierung sprechen, die in Gewalttaten gipfelte. Ich würde sagen, es war eher ein Weg der ideologischen Bildung. Ausschlaggebend dafür waren damals (Anfang der 2000er-Jahre, Anm. d. Red.) Onlineforen. Leider waren das keine Orte, an denen gesicherte Fakten diskutiert wurden: Im Gegenteil, Voreingenommenheit und Lügen waren in diesen Foren an der Tagesordnung. Als der Rechtspopulismus seit einigen Jahren in Europa in mehreren Ländern wieder stärker wurde, brachte mich das zum Schreiben. Ich wollte herausfinden, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte ich meine Meinung nicht geändert. So fing ich an, mich mit einem Teil meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, die ich vor mir selbst versteckt hatte.

Was genau hat Sie an den rechtsextremen Ideologien so fasziniert? Waren Sie Teil einer Gruppe?

Ich werde keine Namen nennen. Was mich vor allem faszinierte, war die Rebellion gegen den Status quo und die Positionierung gegen alles und jeden. Giorgio Albertazzi, ein bedeutender italienischer Theaterregisseur und Schauspieler, entschied sich 1943, der „Italienischen Sozialrepublik“ beizutreten (die von Benito Mussolini nach dem Waffenstillstand mit den Alliierten gegründet wurde, Anm. d. Red.). Er sagte im Nachhinein, er habe sich bewusst für die verlorene Sache entschieden, aus Lust am Abenteuer. Das trifft es eigentlich ganz gut.

„Es ist falsch zu denken, alle Rechtsextremen und Populisten wären Proleten, Menschen aus ärmeren sozialen Schichten oder Leute vom Land“

Beim Lesen Ihres Romans kommt man Ettores Gefühlschaos sehr nah. Obwohl er immer weiter in rechtsextremes Gedankengut abrutscht, hat man manchmal sogar Mitleid mit ihm.

Mein Ziel war es, die Leser und Leserinnen mit einer Figur mitfühlen zu lassen, die man eigentlich nicht mögen will. Dadurch möchte ich zeigen, dass auch ein politischer Feind menschlich ist. Das soll nicht im Geringsten etwas rechtfertigen. Aber ich wollte eine Komplexität schaffen, die dazu beitragen kann, bestimmte Entscheidungen besser zu verstehen.

Ettore lernt in der Schule Giulio kennen, der ihn in die „Federazione“, die faschistische Jugendgruppe, mitnimmt. Warum entscheidet Ettore, sich der Gruppe anzuschließen?

Ettore handelt zu Beginn aus seinem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nicht der Ideologie wegen. Die Begeisterung dafür entwickelt sich erst später. Zunächst ist er einfach einsam. Es geht ihm darum, Menschen zu finden, von denen er sich verstanden fühlt, in einem Alter, in dem man voller Unsicherheiten ist. In einem gewissen Maß zieht ihn an der Gruppe sicher auch der Reiz des Verbotenen an. Hätte er allerdings jemand anderen als Giulio getroffen, dann hätte er auch in jeder anderen Art von Kriminalität landen können, denke ich.

Jeden Tag fährt Ettore aus der Provinz in die Großstadt Mailand zum Gymnasium. Er kommt aus der bürgerlichen Mittelschicht. In der Schule trifft er auf Mitschüler aus noch wohlhabenderen Familien, die manchmal auch der rechtsextremen Ideologie nahestehen. Welche Rolle spielt das Verhältnis von Klasse, Stadt und Land im Roman?

Ich wollte nicht die übliche Debatte über Klasse zeigen. Es ist falsch zu denken, alle Rechtsextremen und Populisten wären Proleten, Menschen aus ärmeren sozialen Schichten oder Leute vom Land. Das stimmt so nicht. Zuletzt hat man das in Deutschland gesehen, bei dem, was auf Sylt passiert ist. Das waren junge Erwachsene aus wohlhabenden Familien.

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Davide Coppo (Foto: Basso Cannarsa/opale.photo/laif)
Davide Coppo lebt in Mailand und und arbeitet für die Redaktion des Magazins „Rivista Studio“ (Foto: Basso Cannarsa/opale.photo/laif)

Ettore spürt im Verlauf des Romans sehr wohl, dass er etwas Falsches tut: Er liest zum Beispiel eine fragwürdige Mussolini-Biografie, aber nur so, dass niemand das Buchcover erkennt. Warum ändert er seine Meinung nicht?

Er merkt, dass die Seite, die er gewählt hat, falsch ist, will sich aber nicht ändern, weil er den Rest der Welt als etwas Feindliches erlebt. Sein Gefühl von Einsamkeit und Trotz gegenüber der Welt wird so groß, dass der politische Aspekt schon fast in den Hintergrund rückt und seine Gefühle in Rebellion und Gewalt ausufern. Er ist hin- und hergerissen, hat Schuldgefühle gegenüber seinen Eltern und dem Mädchen, das er liebt. Ettore weiß, dass seine Wahl für die meisten Menschen in seinem Umfeld fast so etwas wie eine Erbsünde ist. Dass das so wahrgenommen wird, hat auch damit zu tun, dass das Buch im Italien der frühen 2000er-Jahre spielt.

Was ist der Unterschied zur heutigen Zeit?

Heute hat sich die gesellschaftliche Toleranz für rechtsextreme Ideologien verändert, leider. Anfang der 2000er-Jahre hätte man in Italien nicht gedacht, dass mal eine fast offen neofaschistische Partei wie die Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni das Land regiert.

Warum hat die Toleranz für solche Ideologien in Italien zugenommen?

Italien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch bis 1994 von den Christdemokraten, einer Partei der Mitte, regiert (zeitweise mit Unterstützung der Sozialistischen Partei, Anm. d, Red.). Gleichzeitig galt Italien als ein sehr linkes Land mit einer starken kommunistischen Bewegung. Das änderte sich mit der ersten Berlusconi-Regierung 1994, fast 50 Jahre nach der Niederlage des Faschismus. Er brachte nach und nach Neofaschisten in wichtige Positionen und verhöhnte demokratische und antifaschistische Institutionen, beherrschte 20 Jahre lang die politische Bühne. Wenn Ende der 1990er-Jahre „faschistisch“ zu sein bedeutete, einer aufständischen und gewalttätigen Minderheit anzugehören, ist dieser Extremismus heute akzeptiert.

Eine Recherche italienischer Journalisten hat gezeigt, dass bei Treffen der Jugendorganisation „Gioventù Nazionale“ faschistische Slogans und Symbole benutzt werden wie der römische Gruß, der in Deutschland als Hitlergruß bekannt ist. Die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni begann ihre politische Laufbahn in so einer politischen Organisation. Was ist das Gefährliche an diesen Gruppen?

Die „Federazione“, die ich im Roman beschreibe, ist erfunden. Die Gefahr, die aber von solchen realen Gruppen ausgeht, besteht darin, dass der erwachsene Teil der Gruppe kein Interesse daran hat, den Ton ihrer jugendlichen Mitglieder zu mäßigen. Das ist, als wären die Jüngeren ein Vorrat an militanter Energie, den es zu halten gilt. Je extremer die Jugend, desto mehr kann sie dazu dienen, die gesamte Gruppe zu festigen.

Wie verbreitet sind rechtsextreme Ideologien in der italienischen Gesellschaft, insbesondere unter jungen Menschen?

Dazu muss man vorab sagen: Italien hat seinen Faschismus leider nie vollständig aufgearbeitet. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs blieben viele von der faschistischen Diktatur eingesetzte Personen in ihren Ämtern. Prozesse wurden verhindert. Eine offen faschistische Partei, der Movimento Sociale Italiano, war bereits 1948 im Parlament vertreten. Nach der Berlusconi-Regierung von 1994 und den nachfolgenden Regierungen wurde der Faschismus selbst in den höchsten Staatsämtern geduldet. Ich habe den Eindruck, dass heute bei vielen jungen Menschen die Neigung zu einem gewissen Rechtsextremismus als eine leichtfertige, provokante Entscheidung gegen eine Überalterung und Verbürgerlichung der Institutionen angesehen wird. Antidemokratisch zu sein ist heute in Italien leicht, weil der Respekt vor dem Staat seit Jahrzehnten von Regierungen und Parteien geschwächt wird. In jüngster Zeit sind meiner Meinung nach die Fünf-Sterne-Bewegung und Salvinis rechtspopulistische Lega die größten Verursacher dieses Zustands.

„Mir persönlich haben damals Freundschaften mit Menschen geholfen, die nichts mit dieser Ideologie zu tun hatten“

Bei den Europawahlen Anfang Juni haben junge Menschen in Deutschland verstärkt rechtspopulistisch gewählt. Wie war das in Italien?

In Italien war das Ergebnis etwas anders. Die rechtsnationale Partei Fratelli d’Italia ging zwar als stärkste Partei hervor, doch haben Parteien aus dem linken Spektrum im Vergleich zu den letzten Jahren besser abgeschnitten, insbesondere bei jungen Wählern. Das könnte daran liegen, dass die neue Parteivorsitzende des Partito Democratico, Elly Schlein, in den Monaten vor den Wahlen über Arbeit, Löhne und Gehälter gesprochen hat. Ich denke, man muss wieder mehr darüber sprechen. Die Mietpreise in europäischen Städten explodieren, das macht jungen Menschen Sorgen. Es sind existenzielle Dinge, die jetzt für die Millennials, aber auch die jüngeren Generationen wichtig sind.

Wie kann man ganz grundsätzlich junge Menschen wieder mehr für Demokratie begeistern?

Was mir wichtig ist: Der Roman ist kein Märchen, keine Allegorie, sondern eine autobiografisch inspirierte Geschichte, aus der man keine Universalschlüsse ziehen kann. Mir persönlich haben damals Freundschaften mit Menschen geholfen, die nichts mit dieser Ideologie zu tun hatten. Ich habe irgendwann gemerkt, dass die anderen glücklicher waren als ich. Als Teenager habe ich das Leben mit dieser Ideologie als ein Leben voller Verzicht wahrgenommen. Man muss miteinander in einen Dialog kommen, empathisch sein.

Manchmal radikalisieren sich Menschen so stark, dass ein Dialog und Empathie schwierig scheinen. Was tut man dann?

Wenn Sie von den Menschen in radikalen Gruppen, außerhalb der Regierung, sprechen: nichts. Ich glaube nicht, dass es einen Dialog mit antidemokratischen Positionen geben kann.

Titelbild: Espen Rasmussen/VII/Redux/laif

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