Für Turgut ist diese Schule echt ein Problem. Der 15-Jährige sitzt vor dem Klassenzimmer im Flur. Er kämpft mit einem Übungsheft Englisch. Und mit seiner Motivation. „Die Schule ist auch scheiße“, grummelt er. „Muss man alles selber machen. Ist mir klar, dass ich später selbstständig arbeiten muss. In der Lehre und so. Aber ist echt anstrengend. Die zwingen einen nicht, die helfen bloß!“ Turgut gehört zu den M-Klassen. Es sind die Neunten an der Berliner Heinrichvon- Stephan-Schule. Für sie geht es um was. Bald kommt der MSA, der Mittlere Schulabschluss. Das ist die Währung, die im Kampf um Lehrstellen zählt, Reformschnickschnack hin oder her. Theoretisch kann jeder aus den 9. Klassen auch Abi machen. Das geht inzwischen an jener Hauptschule, wo in den 1980er Jahren manche Schüler mit gezücktem Messer um Grastütchen verhandelt haben. Heute geht’s um MSA und Abitur. Messer helfen da nicht. Nur Motivation.
Die „Heinrich-von-Stephan – Reformpädagogische Gemeinschaftsschule“ hat es geschafft. Sie war eine grausame Hauptschule, dann entwickelte sie sich kontinuierlich über eine Haupt- und Realschule zu einer Gemeinschaftsschule. Mit Abitur. Heute gehört sie zu den gefragtesten weiterführenden Schulen Berlins. 104 Plätze vergibt sie für das kommende Schuljahr, 220 Bewerber wollten rein. Von den Angenommenen haben 27 eine Gymnasialempfehlung. Vor vier Jahren waren es zwei oder drei, später zehn potenzielle Abiturienten. Heute sind allein in Turguts Klasse sechs Abi-Kandidaten an Bord. „Das ist die Mischung, die wir wollen“, sagt der Schulleiter Jens Großpietsch. Er gehört zu jenen, die das „Wunder von Moabit“ mitgeschaffen haben. So stand es mal in der „Süddeutschen Zeitung“. Dass die Heinrich-von-Stephan keine tote Schule mehr sei, sondern eine, die sich aufrichte. Die Schulleiterin hatte der Druck zuvor krankgemacht, er ging auf die Psyche. Und der Senat hatte keine neue Leitung mehr zugewiesen. Das Kollegium wusste: Entweder kapitulieren wir – oder wir kämpfen. Sie kämpften. Nahmen die Schüler ernst – und an die Kandare. Noch heute gibt es die Taschenkontrollen von damals, nur wird heute weniger nach Messern gesucht als nach Mobiltelefonen.
Entweder kapitulieren oder kämpfen
„Mensch, Patrick, wieso bist du denn nicht an deinem Logbuch?“, ruft die Lehrerin dem jungen Kerl zu, der sich gerade aus dem Klassenzimmer davonstehlen will. Patrick zieht professionell unschuldig die Schultern hoch. „Aber ich hab die Sachen doch fast fertig.“ Carolin Arlt-Gleim, das ist die Lehrerin, guckt ihn an: „Du hattest dir viel vorgenommen. Verlier dein Ziel nicht aus den Augen!“ Dann fährt sie herum, weil sich zwei ihrer schweren Jungs in einem Handgemenge verkeilen: „Verdammte Hacke, was soll das denn! Lernbüro heißt lernen und nicht ringen.“ Das Lernbüro ist das Herzstück des neuen Lernens an der Stephan-Schule. Deutsch, Mathe und Englisch werden nicht mehr unterrichtet wie früher. Frontal, 45 Minuten lang: Lehrer an alle. Lernbüro geht anders. Dort entscheiden Schüler selbst, ob und wann sie Dreisatz, Englisch oder Rechtschreibung machen. Wer grad wo ist, steht im Logbuch. „Frau Arlt ist wie eine zweite Mama“, sagt Alida. Vor der Klasse verkörpert sie den Charme einer Pionierleiterin.
Arlt-Gleim ist vielleicht die Lehrerin, die für die pädagogische Bandbreite steht, welche die Stephan-Schule abdecken muss. Sie kam einst von einer freien Schule, die mit viel Kunst und finnischem Wochenplan die Verspieltheit des offenen Lernens zelebrierte. Doch hier, in einer Fünfzig- Prozent-Zuwanderer-Schule, geht individuelles, selbstständiges Lernen auch anders: härter, schroffer, disziplinierter. „Manche muss man sehr eng führen“, ergänzt der Rektor. „Sonst bedeutet Freiarbeit schnell frei von Arbeit.“ In der M-Klasse nebenan eröffnen Werner Hüffer und Kathrin Kammermeier den Tag. Ein festes Ritual. Einer der Schüler ruft „Guten Morgen“. Die Klasse antwortet im Chor „Guten Morgen!“. Dann sagt einer, welcher Tag heute ist, wie kalt es draußen ist und was heute ansteht. Montag, der 7. Mai 2012. Besuch einer alten Dame. Margot Friedländer, 90, Holocaust-Überlebende, wird von Auschwitz erzählen. In einer Klasse voller Muslime. Zur Lockerung hilft das Morgenkreis-Ritual, an dessen Ende eine Art Kreuztanz steht. „Damit beide Hirnhälften aufwachen“, ruft Werner Hüffer schnaufend.
Als die KZ-Überlebende spricht, sind alle ruhig
Was anmutet wie die schwache Blaupause eines Bootcamps, ist hier die Wiedererrichtung des Koordinatensystems. Ruhe und Konzentration strahlt der Beginn in der M4 aus. Die Jugendlichen kommen aus dem Wochenende zurück, genauer: von Partys, durchchatteten Nächten oder kleinen Gang-Kriegen draußen auf den Straßen von Charlottenburg- Nord. „Wir haben Schüler, für die ist unsere Schule so etwas wie die Rettung“, sagt einer der Lehrer. „Sie hilft ihnen aus Lebens- und Wohnzuständen, die jeder von uns als unerträglich empfinden würde. Diese Schule ist für sie die Chance, in die Gesellschaft einzusteigen.“
In jeder der Klassen befinden sich fünf oder sechs Schüler, die sonst wohl eine Förderschule besuchen würden. „Für diese Schüler müssen wir täglich eigene Aufgaben konstruieren“, sagt der Klassenlehrer aus der M4. „Die Aufgaben mit den Anforderungsniveaus von Hauptschule bis Gymnasium schaffen die gar nicht. Wir müssen sie erst auf das Niveau der Hauptschule hieven. Aber das ist extrem anstrengend.“ Der 62-Jährige zieht die Stirn in Falten. Er hat seit 1975 an dieser Schule alles miterlebt. Früher die sterbende Hauptschule. Heute die Lernwerkstätten, in denen sich die Schüler Themen selbst erarbeiten. Und sie dann mit Prezi oder Powerpoint den Eltern präsentieren müssen. Den „Mittwoch im Angebot“ mit allen nur denkbaren Wahlkursen. Oder das vom SOS-Kinderdorf für dieses Projekt zur Verfügung gestellte Landbaugelände in Gatow, wo die Pubertierenden alles selber machen dürfen, vom Baumhaus bis zum Gemüsebeet. Oder jeden Tag „die bewegte Pause“. 20 Minuten Sportangebote, verpflichtend, bei denen Hüffer die Jungs umdribbelt wie Slalomstangen.
Werner Hüffer sagt, dass das individuelle Lernen eine bessere Methode ist als das herkömmliche Belehren von vorne. „Beim Frontalunterricht haben die mich immer alle fröhlich angelächelt – aber ich wusste ja gar nicht, ob sie es können oder nicht“, berichtet er. Heute weiß er ganz genau, wer es nicht kann. Aber er weiß auch: Er kann nicht immer helfen. „Wir bräuchten ausgebildete Sonderpädagogen im Team, die Zeit haben, auf solche Fälle einzugehen.“ Zum Beispiel Aytun. Wenn er hinausgeht und sich allein vor die Heizung im Treppenhaus setzt, um dort zu arbeiten. Ein sehr gepflegter Junge, offene, wache Augen. Aber auch einer, der ganz schnell nervös und zappelig ist. Mit Aytun im Klassenraum kann das ganz schnell kippen. Er schubst Mitschüler, reißt sie mit. Als die Klasse die Zeitzeugin Margot Friedländer anhört, ist es lange mucksmäuschenstill. Die türkischen Halbstarken schlucken schwer, als sie hören, dass Friedländers Bruder „mit 17 Jahren ins Gas geschickt wurde“. Murat, ein muskulöser, sehr ernster Junge, klebt mit seinen Augen 40 Minuten lang förmlich an der älteren Dame, die erzählt, wie sich das industrielle Töten der Nazis aus der Nähe anfühlte. Nur Aytun fesselt das nicht. Nach wenigen Minuten wippt er, knetet und klatscht in die Hände. Erst als ihm eine Lehrerin beruhigend auf die Schulter klopft, wird es besser.
Der Unterschied zu früher ist: Früher waren es die schwierigen Schüler, die das Klima in der Klasse bestimmten, heute sind es die Engagierten, die im Unterricht den Ton angeben und die die Standards setzen. Die Klasse ist beim kollektiven Notenverlesen schon ein wenig weggenickt. „Lea, zwei Punkte“, sagt der Lehrer. Es dauert eine Sekunde, da schreckt die ganze Klasse hoch. „Lea – nee, das ist nicht wahr!“, ruft einer. Der Lehrer kostet seinen Gag einen Moment aus. „Lea, 15 Punkte natürlich!“ Die Kids grienen. Was Turgut als Qual empfindet – alles selber machen zu müssen –, ist für Alida der Ansporn, mehr zu machen. „Ich kann hier selbst entscheiden, wann ich Mathe übe und wann Englisch“, sagt sie. „Das Lernbüro ist genau das Richtige. Ich arbeite und gehe nur zum Lehrer, wenn ich etwas nicht verstehe.“ Als Alida kam, hatte sie eine Realschulempfehlung. Inzwischen sind ihre Noten so weit nach oben geschnellt, dass sie eines der Mädchen sein wird, das zum ersten Abiturjahrgang gehören könnte. „Aber ich muss dranbleiben“, sagt Alida. Und setzt den Eintrag in ihrem Französischheft sehr korrekt fort.
Die Stephan-Schule ist weiterhin eine Schule derjenigen, die den Anschluss zu verlieren drohen. Aber sie ist jetzt auch: eine Schule der Aufsteiger. Lea aus der M4 findet Noten wichtig und ist begierig darauf, „dass mir die Lehrer sagen, wie ich besser werden kann“. Sie hat ebenfalls eine Realschulempfehlung, aber sie will mehr. Svenja machte der Druck am Gymnasium körperlich krank. In den Projekten der Stephan-Schule ist sie die Chefin: „Ich kann selber sagen, ich will lieber Atombombe oder Inflation präsentieren.“ Sie alle wollen Schauspielerinnen werden. Und sie haben das große Ziel vor Augen: die ersten Abiturientinnen zu sein. 30 Jahre, nachdem die Lehrer der Heinrich-von-Stephan-Schule beschlossen: Wir wehren uns! Vielleicht ja auch Patrick? Den seine Lehrerin anpfeift, wenn er schludert. „Ich hätte an ´ne Schule gehen können, wo man den Mofa-Führerschein macht“, erzählt er. „Mofafahren! Aber ich wollte hierher. Weil der Lernstand besser ist.“ Patrick redet nicht gerne über sein Zuhause. Krach mit dem Vater. Lieber darüber: „Ich schreibe meine eigenen Texte. Stehen bei Yuppie.de.“ Er leuchtet, will nicht genau verraten, wo. „Hab Angst vor Raubkopierern.“ Als jemand was von Gymnasium sagt, macht er: „Boah, Gynasium, das wär auch cool.“ Sie werden Patrick verraten müssen, dass er das Abi auch hier haben kann. Hier in seiner Schule.