War es eine dreiste Lüge? Oder vielmehr eine selbsterfüllende Prophezeiung? Als Vanessa Newman vor zwei Jahren auf einer Veranstaltung gefragt wurde, was ihr Beruf sei, war ihr der Studentenstatus so unangenehm, dass sie ihn verschwieg. Sie wollte, dass ihr die Leute nicht nur höflich zunicken, sondern interessiert zuhören. „Ich habe erzählt, dass ich androgyne Schwangerschaftsmode entwerfe“, sagt Newman. Und die Leute hörten wirklich zu. Die junge Frau sammelte Visitenkarten, bekam Zuspruch, und beim nächsten Event wiederholte sie ihre Hochstapler-Geschichte. „Durch die positiven Reaktionen habe ich gemerkt, dass das tatsächlich eine gute Idee ist.“
Vanessa Newman hat die Wahrheit nachgeholt. Seit einem Jahr arbeitet die US-Amerikanerin mit einem kleinen Team an der Modelinie „Butchbaby & Co“. Ihr Konzept? „Wir wollen Umstandskleidung entwickeln, in der sich auch Genderqueers und maskuline Mütter wohlfühlen“, erklärt die 20 Jahre alte Newman. Sie nennt es „Alternity Kleidung“, was sich aus den Wörtern „Maternity“ (Mutterschaft) und „Alternative“ ableitet.
Es scheint, als hätte sich Newman eine Nische gesucht – und das stimmt wohl auch, was ihren Markt angeht. Aber zeitgleich ist Butchbaby als Teil einer größeren Entwicklung zu sehen. In der Modewelt brechen die einst starren Geschlechterzuordnungen immer mehr auf.
Mädchen tragen Rosa, Jungs Blau. Frauen tragen Röcke, Männer Hosen. So war das früher, scheinbar unumstößlich. Es gab natürlich Ausnahmen wie die Schauspielerin Marlene Dietrich, die bereits in den 1920er-Jahren Smokings trug, oder die Designerin Jil Sander, die sich in den 1990er-Jahren an geschlechtsneutraler Kleidung versuchte, oder Kate Moss, die im selben Jahrzehnt einen neuen knabenhaften Modeltyp verkörperte. Diesen Sommer schickten ein paar Designer ihre Male-Models in Spitzenblusen über den Laufsteg. Doch im Mainstream blieb die Mode in traditionellen Mustern hängen. Es wurden Stereotype produziert, die Nachfrage bedient und ein entsprechender Kreislauf geschaffen, der kaum Platz für genderqueere Identitäten bot – also Identitäten, die zu den verbreiteten Vorstellungen davon, was als männlich und was als weiblich gilt, querliegen.
„Die starre Zweigleisigkeit in der Mode funktioniert für viele Menschen nicht“
Vanessa Newman identifiziert sich als „masculine presenting queer“. Die Afroamerikanerin wuchs in Maryland auf, studierte an der American University in Washington, D.C. „Ich war schon immer an männlicher Mode interessiert, habe erst gern Skateboarder-Klamotten und später Krawatten getragen“, sagt Newman. Dann lernte sie Michelle Janayea kennen, eine Modestudentin aus Chicago. „Wir haben oft übers Kinderkriegen gesprochen, konnten uns beide aber nicht vorstellen, was wir während der Schwangerschaft tragen könnten“, sagt Newman. „Ich habe während meines Studiums festgestellt, dass die starre Zweigleisigkeit in der Mode für viele Menschen nicht funktioniert“, so Newman weiter. Im Sommer 2014 präsentierte sie ihre Idee bei einer LGBT-Konferenz im Weißen Haus. Ende vergangenen Jahres begannen die zwei Frauen dann mit der Arbeit für Butchbaby & Co. „Wir wollen Umstandsmode entwerfen, die nicht zu eng an der Haut klebt. Zum Beispiel T-Shirts, die die Brüste weniger groß erscheinen lassen, als sie sind. Das ist für viele maskuline Frauen wichtig“, sagt Newman, die das Start-up mittlerweile alleine führt. Michelle Janayea hat sich anderen Projekten zugewandt.
Es gibt ein Bedürfnis nach geschlechtsneutraler Mode – das verstehen nicht mehr nur vereinzelt Designer. Im März führte die britische Kaufhauskette Selfridges in drei Städten Unisex-Abteilungen ein, wenn auch nur für sechs Wochen. In der Filiale in der Oxford Street in London hieß es auf drei Stockwerken „Agender“ – so der Name des Projektes. „Wir haben die Rahmenbedingungen des Shoppings verändert, indem wir Gendercodes beseitigen. Unsere Kunden haben jetzt freie Wahl, die einzig und allein auf dem persönlichen Geschmack basiert“, sagte Creative Director Linda Hewson.
Das Projekt sei das größte in der Mode-Geschichte von Selfridges gewesen. „Wir schauen derzeit, wie wir Agender in Filialen und online fortführen können“, teilte eine Konzernsprecherin auf Anfrage mit. Auch die Luxus-Online-Boutique „thecorner“ will bald einen genderneutralen Verkaufskanal mit dem Namen „No Gender“ eröffnen. Und der jordanischstämmige kanadische Designer Rad Hourani wurde überhaupt erst durch seine Unisex-Kollektionen bekannt. Sein Label wird in der Haute-Couture-Welt gefeiert. „Ich versuche, etwas Pures zu entwerfen, das man für sich verändern kann. Das ist für mich Unisex“, sagte Hourani mal in einem Interview.
Das Diktat bricht auf. Langsam. Als Teil eines gesellschaftlichen Wandels. In Berlin wurden im vergangenen Jahr in einigen öffentlichen Gebäuden Unisex-Toiletten eingeführt. Bereits die Ankündigung dieses Schrittes hatte eine große Diskussion entfacht. Das US-Magazin „Time“ schrieb im Sommer: „2015 wird das Jahr des genderneutralen Babynamens“ und berief sich dabei auf einen Report der Plattform BabyCenter.com. Demnach würden neutrale Namen wie Amari, Phoenix und Quinn immer populärer.
Im August dieses Jahres verkündete der US-Einzelhändler Target, dass man in Zukunft auf die Genderkategorisierung von Spielzeug verzichten wolle. In Schweden wurde in diesem Jahr das geschlechtsneutrale Personalpronomen „hen“ ins Wörterbuch aufgenommen. Jahrelang war in dem skandinavischen Land darüber diskutiert worden. Nun gibt es dort auch eine offizielle Antwort auf die Frage, wie man einen Menschen beschreibt, der sich weder als Mann noch als Frau versteht. Apropos: Bei Facebook können deutsche Nutzer ihr Geschlecht seit letztem Herbst auch als „Inter“ oder „transsexuell“ angeben.
Kleidungsunterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es erst seit der Neuzeit
Im Jahr 2008 wurde in London die Organisation „Pinkstinks“ gegründet; einen deutschen Ableger gibt es seit 2012. Das Ziel: „Pinkstinks ist die Wut der Eltern, deren Sohn Pink als Lieblingsfarbe hat und dafür in der Schule gemobbt wird. Es ist nicht die Farbe, die stinkt, sondern die Tatsache, dass sie nur Mädchen zugeordnet wird“ – so steht es auf der Pinkstinks-Homepage. Dabei hatte sich die klassische Farbenzuordnung erst einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt – vorher trugen kleine Mädchen und Jungen hauptsächlich Weiß. Dass es klare Kleidungsunterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, hat sich in Europa überhaupt erst in den vergangenen Jahrhunderten durchgesetzt. Im antiken Rom trugen Frauen und Männer oftmals gleiche Gewänder, im Mittelalter unterschieden sich viele Oberbekleidungsstücke kaum.
Butchbaby-Chefin Newman will ihren Teil dazu beitragen, dass die Binarität der Modewelt aufgelöst wird. „Wir wollen Kleidung entwerfen, die das Geschlecht nicht herausschreit“, sagt sie. Und wie sieht genderqueere Umstandsmode aus? „Ich zum Beispiel trage selten eine Handtasche. Deshalb sind in die Pulloverärmel Taschen integriert“, erklärt Newman. „Bundfalten werden ein zentrales Element der Kollektion. Die Hemden sind klassische Button-down-Modelle.“
Lukas Hermsmeier arbeitet seit Sommer 2014 in New York als Journalist. Sneakers hat er seither nicht gekauft. An Mode interessieren ihn am wenigsten die Klamotten.