Hacı-Halil Uslucan erforscht, wie stereotype Denkmuster in Deutschland die Integration von zugewanderten Menschen behindern und ihnen Teilnahmechancen rauben. Seine Studien belegen, dass es immer noch viele Vorurteile gibt, die den alltäglichen Umgang mit Einwanderern prägen und sich sogar in Schulbüchern wiederfinden.

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Was steht der Integraton da noch im Wege? Zum Beispiel das Klischee, dass Migranten immer arm sind (Foto: Emine Akbaba)

Was steht der Integraton da noch im Wege? Zum Beispiel das Klischee, dass Migranten immer arm sind

(Foto: Emine Akbaba)

Herr Uslucan, Sie beschäftigen sich mit stereotypen Zuschreibungen in der Gesellschaft. Können Sie mir ein Beispiel nennen, wo verzerrte Bilder des „Anderen“ die Integration behindern?

Hacı-Halil Uslucan: Ein häufiges Stereotyp ist, dass es die Ärmsten der Armen sind, die zu uns kommen und uns belasten. Die Migrationsforschung zeigt jedoch: Nicht die Ärmsten kommen, sondern die, die gewisse Ressourcen haben, materiell und intellektuell. Die sich bewegen können. Das ist, glaube ich, eines der gängigsten Stereotype. Vielfach trifft es aber nicht zu.

Nun gibt es auch für geflüchtete Ärzte, Bäcker, Schreiner oder Ingenieure in Deutschland erst mal keine Arbeitserlaubnis. Bestärkt unser Asylsystem nicht zusätzlich das Vorurteil des Bittstellers?

Ich bin kein Experte in Asylfragen. Aus psychologischer Perspektive kann ich sagen, dass diese Politik für den Einzelnen heißt, dass er keine Erfahrung der Nützlichkeit machen kann. Weder für sich noch für die Gesellschaft. Das verstärkt seine Opfersituation, seine Hilflosigkeit. Das kann nicht gut sein.

Sie haben herausgefunden, dass Menschen mit Migrationshintergrund auch dann unterschätzt und diskriminiert werden, wenn ihnen die gleichen Rechte zustehen wie den übrigen Bürgern auch. Welche Folgen hat das für ihre Integrationsbereitschaft?

Wir müssen insbesondere für den Bildungsbereich kurzfristige und langfristige Wirkungen unterscheiden: Uns abwertende Bilder stören nicht nur unser psychisches Wohlbefinden, sondern sie beeinflussen auch die kognitive Leistungsfähigkeit. Im Bildungsbereich können junge Menschen nicht ihre Kompetenzen zur Schau stellen. Langfristig nimmt deswegen ihre Teilnahmebereitschaft an der Bildung ab. Sie verbinden Bildungsorte mit Verletzungen des Selbstwertgefühls. Die natürliche Reaktion eines jeden Menschen ist, diese Orte zu meiden. Sie versuchen woanders, ihre Stärken auszuspielen: im Sport, bei Hobbys und in Freundschaften.

Sie sagen, dass sich dieses Phänomen bei Zuwanderern in der zweiten und dritten Generation noch verstärkt. Warum ist das so?

Das ist ein interessanter Befund, der im Alltag beobachtbar ist. In Holland wurde er anhand marokkanischer und türkischer Einwanderer gemacht. Die Forscher stellten ein Integrationsparadox fest: Die junge Generation, die viel besser integriert ist als ihre Eltern, fühlt sich wesentlich stärker ausgegrenzt als ihre Eltern. Das liegt daran, dass sie den Gleichheitsgedanken verinnerlicht haben und einfach denselben Anspruch hegen wie die Einheimischen. Zudem verfolgen sie viel stärker die Integrationsdebatte. Sie wissen, was über sie gesprochen wird. Das macht sie sensibler für Fragen der Ausgrenzung. Die erste Generation hat die Zuwandererdebatte kaum verfolgt. Sie hat andere Sorgen gehabt.

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Lass Dich nicht verschaukeln – es stimmt einfach nicht, dass zugewanderte Menschen in mehr Gewaltvorfälle verwickelt sind (Emine Akbaba)

Lass Dich nicht verschaukeln – es stimmt einfach nicht, dass zugewanderte Menschen in mehr Gewaltvorfälle verwickelt sind

(Emine Akbaba)

Ein gängiges Vorurteil gerade gegenüber ausländischen jungen Männern ist ihre vermeintliche Gewaltbereitschaft. Wie begegnet man der Angst?

Wenn man nur ethnisch differenziert, also Ausländer versus Deutsche, sieht man in der Tat, dass ausländische Jugendliche in mehr Gewaltvorfälle verwickelt sind. Wenn man sich die Merkmale aber genauer ansieht, dann verschwindet die Bedeutung dieses Unterschieds weitgehend. Nicht die Ethnie ist das entscheidende Merkmal für Kriminalität, sondern soziokulturelle Aspekte wie frühe Gewalterfahrungen im Elternhaus oder das Dominanzgefühl der Mehrheitsgesellschaft: also das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Ein Vergleich Ausländer–Deutsche oder auch Muslime–Christen ergibt ein schiefes Bild.

Wie kommt es dann zu dieser Wahrnehmung in der Bevölkerung?

Sie sehen den Mehmet, den Muhammad – und sie sehen in ihm den Türken, den Araber. Sie sehen in ihm aber nicht den jungen Mann, der vielleicht eine traumatische Kindheit hinter sich hat. Im Alltag sehen sie seine Geschichte nicht, sondern nur ihn, und koppeln das mit seiner ethnischen Herkunft. Sie glauben, er sei gewalttätig, weil er ein Türke oder Araber ist.

In welchen Klischees wird ein Türke oder Araber wahrgenommen?

Ein zentraler Punkt ist, glaube ich, sein angeblich patriarchalisches Verhältnis zur Frau. Sein Bedürfnis, autoritär über die Familie zu herrschen. Ein zweiter Aspekt ist seine unreflektierte Frömmigkeit. Da entsteht das Bild einer Person, die aus europäischer, aufgeklärter Perspektive noch nicht reif ist. Da sind noch Bilder des Orientalismus aus dem 18. und 19. Jahrhundert präsent. Demgegenüber steht der rational gesteuerte Mann, der seine Emotionen unter Kontrolle hat. Er muss den Orientalen erst noch zivilisieren.

Kann man so tief verwurzelte Vorurteile und Ängste nur abbauen, wenn man – wie zurzeit viele Deutsche – persönlich den Kontakt mit Flüchtlingen sucht?

Das ist ein ganz wichtiger Weg, natürlich. Die Zivilgesellschaft zeigt da ein anderes Gesicht. Auch Kanzlerin Angela Merkel macht eine gute Figur, weil sie in der Flüchtlingsfrage beharrlich ist. Und auch in den Medien ist in den letzten ein, zwei Jahren eine deutlich sensiblere Darstellung der Thematik zu beobachten. Wir brauchen diese Prozesse aber viel stärker im Bildungsbereich. In aktuellen Schulbüchern sind die Stereotype zum Teil eklatant. Da wird Mehmet, dessen Familie schon seit Generationen im Land lebt, in der Klasse zum fremden Nachbarn. Welche Erfahrung muss das für ein Kind sein? Plötzlich gehört er nicht mehr dazu. Wir brauchen eine kritische Aufarbeitung unserer Schulbücher. Und wir brauchen an den Hochschulen mehr Angebote im Bereich Interkulturelle Bildung oder Interkulturelle Pädagogik. Außerdem müssen die Lehramtsstudierenden während ihres Studiums stärker auf heterogene Klassen vorbereitet werden. Ich weiß nicht, ob das an allen Universitäten der Fall ist.

Was kann der Staat noch tun, um seinen Bürgern die Stereotype aufzuzeigen?

Neben der Sensibilisierung im Bildungsbereich muss der Staat verhindern, dass legale Formen der Diskriminierung entstehen. Wenn auf dem Arbeitsmarkt möglicherweise ungleicher Lohn für verschiedene ethnische Gruppen gezahlt wird, muss der Staat einschreiten. Ansonsten könnte man schließen: Wer nicht gleich entlohnt wird, ist nicht gleich viel wert. Solchen Schlussfolgerungen darf man keinen Raum geben, sonst handelt es sich um legalisierte Diskriminierung.

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cms-image-000047597.jpg (Foto: privat)
(Foto: privat)

Der Psychologe Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan ist Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Uslucan wurde in der Türkei geboren und ist als Sohn eines türkischen Gastarbeiters in Berlin aufgewachsen.