Sieben bis neun Stunden gesunder Schlaf, 10.000 Schritte, 2.000 bis 2.500 Kalorien, aber bloß nicht zu viele Kohlenhydrate und gesättigte Fettsäuren. So sieht der von Ärzten empfohlene gesunde Tag aus –  damit es irgendwann auch mit dem Wunschblutdruck von 120 zu 80 und dem 21er Body-Mass-Index klappt. Bloß: Wer kennt seine eigene Energiebilanz schon so genau, um etwas mit den schlauen Zahlen anfangen zu können?

Vor ein paar Jahren waren das lediglich ein paar Körperfreaks und Techniknerds aus den USA. 2007 gründeten die Journalisten des amerikanischen Magazins „Wired“, Gary Wolf und Kevin Kelly, in San Francisco das Blog Quantified Self und gaben der Bewegung eine zentrale Plattform. Heute bedient eine ganze Industrie die Lust am Vermessen. Mit Sensor im Schuh und Fitbit-Band am Handgelenk vor die Tür zu gehen ist ganz normal – sagt die Werbung. Ständig laufen Clips für die neuesten Fitness-Gadgets und Gesundheits-Apps. Allein quantifiedself.com listet 43 Geräte zur Selbstvermessung auf. Kaum etwas, das es nicht gibt: Um noch zur Avantgarde zu gehören, müsste man schon seine Hirnströme, den Feuchtigkeitsgehalt seiner Haare oder die eigene Darmaktivität per Infrarot unter die Lupe nehmen.Das ist das große Projekt der Quantified-Self-Bewegung. Ihre Anhänger erheben Daten über ihren Körper und übersetzen sie mit digitalen Hilfsmitteln in Zahlen. Sie zählen Schritte und Kalorien, verfolgen Herzfrequenz und Blutdruck, überwachen ihren Schlaf – und vergleichen ihre Werte anschließend in sozialen Netzwerken.

In Deutschland hat der Blogger und Digital-Health-Berater Florian Schumacher, 34 Jahre, Quantified Self bekannt gemacht. Erst hat er seine Finanzen überwacht, dann seinen Schlaf, schließlich sein Blutbild. „Durch die Kenntnis über meine Daten bin ich sportlich aktiver geworden und habe mehr über meine Ernährung gelernt“, sagt Schumacher. „Jeder weiß, dass Bewegung und gesundes Essen gut ist. Aber wer kann diese abstrakten Zahlen über Schritte und Kalorien schon für sich anwenden?“ Das Tracken mache sie einem bewusst und helfe dabei, die eigenen Ziele zu erreichen. Dabei seien sie viel billiger als ein Personal Trainer.

Schon Kant meinte, man solle weder Ärzten noch anderen Autoritäten trauen. Sondern nur sich selbst. Was aber hätte der Philosoph wohl über ein Armband gesagt, das unsere Schritte zählt, uns in einer bestimmten Schlafphase weckt und vibriert, wenn wir zu lang auf der Couch gesessen haben? Hätte er darin ein Stück Aufklärung oder eine neue Unfreiheit erkannt? Zunächst klingt es sinnvoll, Daten zu erheben und zu vergleichen, Kontrolle zu bewahren und Ziele zu setzen, um gesünder zu leben. Man muss jedoch die Messwerte der Fitnessgeräte und die Ratschläge der Apps richtig einordnen können – findet auch Schumacher.

„Die Apps geben keine grundlegend falschen Empfehlungen. Und die Technik wird immer besser“, sagt der Self-Tracking-Pionier. Die Entwicklung gehe von motivierenden Geräten, die den Lebensstil unterstützen, zu diagnostischen Geräten, die Krankheiten erkennen. Schumacher sieht auch in der wachsenden Datenmenge eine große Chance: „Je mehr Daten sich vergleichen lassen, desto besser kann die Medizin individuell optimierte Medikamente entwickeln. Das ist eine Zukunft, die riesige Vorteile mit sich bringt.“

Der leichtfertige Umgang mit den eigenen Daten sei aber nicht das Hauptproblem der Quantified-Self-Bewegung. Schließlich brauchen wir gar keine Strippenzieher, die uns von der Freiwilligkeit in den Zwang treiben. Das schaffen wir ganz allein. Loebel warnt deshalb noch vor anderen Folgen der Selbstvermessung. Helfen uns die Zahlen tatsächlich für ein besseres Leben, oder passen sie uns nur in ein erwünschtes System ein? „Gestern haben uns die Geräte noch passiv vermessen. Heute erklären sie uns schon, was diese Daten bedeuten. Sie haben einen Algorithmus einprogrammiert, eine Wahrheit, der wir uns unterwerfen. Aber ob die wirklich gut für uns ist, sei dahingestellt.“Noch vor einer Generation beschwor das Thema Datenerfassung das Schreckgespenst des Überwachungsstaats. Heute herrscht im digitalen Alltag ein oft sorgloser Umgang damit. Google speichert unsere Suchbegriffe, Amazon unsere Kaufinteressen, Facebook unser soziales Leben. Wann wir wo mit wem warum unterwegs waren und wen wir dort kennenlernten oder verpasst haben. Was hält eigentlich die Krankenkasse von meinem Fast-Food-Faible? Was die Autoversicherung von meinem Fahrstil? Die Daten liefern die Menschen selbst in ihrer allgemeinen digitalen Unbekümmertheit.

„Die meisten Leute sind sich nicht bewusst, welche Daten erfasst werden und wer sie verwenden könnte“, sagt der Wissenschaftler Jens-Martin Loebel. „Sie sehen den Mehrwert für sich selbst, doch am meisten profitieren vor allem die Anbieter. Wenn Selbstvermessung zur Bedingung von Versicherungspflichten wird, ist es problematisch.“ Loebel forscht auf dem Gebiet der Datenspeicherung und hat jahrelang seine eigenen GPS-Daten ausgewertet. „Es ist erschreckend, wie leicht ich berechnen konnte, wo ich mich mit wem aufgehalten habe. Heute bemühe ich mich um Datensparsamkeit.“

Philipp Brandstädter ist freier Journalist in Berlin. Seiner Fitness-App zufolge ist er in der vergangenen Woche 52.574 Schritte gelaufen und hat am liebsten gesättigte Fettsäuren gegessen.

Fotos: Travis Hodges / INSITUTE