„Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Wir kennen uns nicht. Keine Namen. Versprochen?“, fragt Belgacem, der eigentlich anders heißt. Immer wieder schaut sich der Endfünfziger im grünen Arbeitskittel angespannt um. „Ich will nicht, dass sie auf der Arbeit etwas davon erfahren.“ Wir sitzen in einem tunesischen Straßencafé, einige Straßen von seiner Arbeitsstelle entfernt, um über Belgacems Neffen Faysal zu sprechen. Mehr als vier Jahre ist es inzwischen her, dass dieser nach Syrien gegangen ist, um an der Seite radikaler Islamisten zu kämpfen. Faysal, der in Wirklichkeit auch einen anderen Namen trägt, war damals 22 Jahre alt.

Sein Onkel will nicht an die große Glocke hängen, was mit dem Jungen passiert ist. Die Nachbarn im Vorort der Hauptstadt Tunis, wo die Familie wohnt, würden schon genug reden. Die Familie sei herzlich und sauber, der Vater ein fleißiger Arbeiter, erzählt einer von ihnen. „Faysal war immer ein strebsamer, braver Junge, der hat keinen Quatsch gemacht.“

Wie wurde aus dem braven Faysal ein Dschihadist? Was ist der Auslöser, dass er schließlich nach Syrien ausreist?

Wie wurde aus dem braven Faysal ein Dschihadist? Was ist der Auslöser, dass er schließlich nach Syrien ausreist? Bereut er heute seine Entscheidung? Vieles lässt sich nicht beantworten, und viel weiß nicht mal seine Familie darüber, wie es Faysal heute geht. Alle zwei, drei Monate ruft er seine Mutter in Tunis an. Einsilbig sei er, „denn die Gespräche werden sicherlich überwacht“, erzählt sein Onkel Belgacem. Er sei am Leben, habe geheiratet und eine Tochter bekommen, mehr weiß die Familie nicht. „Er ist irgendwo in Syrien, aber wir wissen nicht mal, für welche Gruppe er kämpft.“

 

Klar ist eigentlich nur: Faysals Radikalisierung beginnt in etwa, als andere Tunesier für Freiheit und Demokratie protestieren und im Januar 2011 den Diktator Zine el-Abidine Ben Ali stürzen. Faysal interessiert sich nicht für Politik. Er besteht derweil mit Ach und Krach sein Abi und fängt ein Studium an. Auch das mit mäßigem Erfolg. „Irgendwann ist er dann nicht mehr zum Fußball, sondern in die Moschee gegangen“, erzählt sein Onkel Belgacem. 

Fernsehen, Musik hören, tanzen? Alles „haram“, findet Faysal

Die Familie ist selbst konservativ und gläubig. Doch laut Belgacem habe sie bald bemerkt, dass bei dem jüngsten der vier Kinder mehr hinter den Moscheebesuchen steckte als reines Interesse an der Religion. Innerhalb von wenigen Monaten werden Faysals Ansichten immer radikaler. „Er hat sich einen Bart wachsen lassen und wollte, dass seine Eltern den Fernseher abschaffen.“ Nüchtern reiht der Onkel die Ereignisse aneinander, an denen er die Veränderung seines Neffen festmacht, als versuche er, Ordnung in eine Reihe von Fragen zu bringen, auf die er bis heute keine Antwort finden kann. Bald hätte er Frauen nicht mehr die Hand gegeben. „Einmal ist die ganze Familie auf die Hochzeitsfeier von Nachbarn gegangen, da hat er sich geweigert.“ Musik und Tanz seien „haram“, hat er gesagt. „Haram“ bedeutet: für Muslime verboten.

Faysals Radikalisierung beginnt in etwa, als andere Tunesier für Freiheit und Demokratie protestieren.

Belgacem sucht damals, im Herbst 2012, das Gespräch mit Faysal. Er war in den frühen 1980er-Jahren selbst in die Fänge radikaler Islamisten geraten. „Am Anfang haben wir damals nur den Koran auswendig gelernt. Dann sollten wir den Umgang mit Waffen trainieren.“ Da sei er ausgestiegen, gerade noch rechtzeitig, wie er im Rückblick sagt. Er dachte, dass sein Neffe auf ihn hören würde, da er wisse, wovon er spreche. Belgacems Augen füllen sich mit Tränen, er beißt sich auf die Unterlippe. „Ich habe versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Aber ich bin gar nicht mehr an ihn rangekommen.“ 

 

Als Faysal Ende 2012 nach seinem alten Pass fragt, beginnt die Mutter, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Als Kind war er in Europa gewesen, da er wegen eines Herzfehlers operiert werden musste. 2012 war der Pass längst abgelaufen. Doch um in Tunesien einen neuen Pass zu beantragen, muss der alte abgegeben werden, selbst wenn er nicht mehr gültig ist. „Da ahnte meine Schwester, dass er versuchen wollte, ins Ausland zu gehen“, erzählt Belgacem. Die Mutter trägt den Pass seitdem Tag und Nacht bei sich – vergebens.

 

Eines Tages rasiert Faysal sich den Bart ab – wahrscheinlich, um Passfotos zu machen und bei der Ausreise nicht auf den ersten Blick als Islamist verdächtigt zu werden. Einige Wochen später, im Februar 2013, kommt er abends nicht nach Hause. „Wir haben alle Krankenhäuser abgeklappert und bei der Polizei gefragt, ob es irgendwo einen Unfall gab. Nichts.“ Auch in der Moschee gibt man ihnen keine Auskunft.

Als die Eltern feststellen, dass der Sohn einen großen Rucksack mitgenommen hat, geht die Familie direkt zum Innenministerium. Ein Beamter bestätigt ihnen, dass ihr Sohn ein Flugzeug in die Türkei genommen hat – mit einem regulären tunesischen Reisepass, den er eigentlich gar nicht hätte besitzen dürfen. Warum ihm die Polizei trotzdem einen ausgestellt hat, ist bis heute unklar. Mit Faysal zusammen verschwindet am selben Wochenende ein halbes Dutzend anderer Jugendlicher, die ebenfalls die Moschee des Wohnviertels besucht haben.

Während die tunesischen Behörden von rund 2.000 Personen ausgehen, spricht die UN von rund 5.000 bis 6.000 tunesischen Dschihadisten, die sich im Ausland aufhalten.

Faysal ist einer von vielen jungen Tunesiern, die zu dieser Zeit das Land verlassen haben, um in Libyen, Syrien oder dem Irak für radikalislamistische Gruppen zu kämpfen. Dort stellen Tunesier die größte Gruppe ausländischer Kämpfer. Während die tunesischen Behörden von rund 2.000 Personen ausgehen, spricht die UN von rund 5.000 bis 6.000 tunesischen Dschihadisten, die sich im Ausland aufhalten. Die meisten von ihnen haben ein ähnliches Profil wie Faysal: Es sind junge Männer, die nach dem politischen Umbruch 2011 radikalisiert wurden. Damals wurden bei zwei Generalamnestien nicht nur unter Diktator Ben Ali zu Unrecht verurteilte politische Häftlinge freigelassen, sondern auch Mitglieder von Terrororganisationen. Diese konnten zunächst relativ unbehelligt neue Mitglieder anwerben. 

Erst nach den Morden an zwei tunesischen Oppositionspolitikern im Jahr 2013 ging der Staat entschlossener gegen die Organisationen vor. Damals wird auch ein Mann aus Faysals Viertel festgenommen, der reihenweise junge Männer rekrutierte. „Das war Gehirnwäsche, was er gemacht hat“, sagt Belgacem. „Und sie haben ihn machen lassen, sie haben einfach zugeschaut.“ Die Wut des Onkels richtet sich auf die damalige Regierung unter Führung der Ennahda-Partei. Komplizen der Extremisten seien sie, auch wenn sie sich in der Öffentlichkeit als moderate Islamisten darstellen würden. Hätten die Verantwortlichen den polizeibekannten Mann früher festgenommen, hätten sie seinem Neffen keinen Pass ausgestellt. Vielleicht wäre Faysal heute noch in Tunesien. 

 

Als sich an den Nebentisch im Café drei junge Männer setzen, beginnt Belgacem zu flüstern. Dann steht er unvermittelt auf, will lieber den Gesprächsort wechseln. Immer wieder schaut er sich auf der Straße um, ob ihm niemand folgt. Seitdem Faysal verschwunden ist, stehe regelmäßig die Polizei vor der Tür. Auch heute noch komme sie zwei, drei Mal die Woche, um zu fragen, ob die Familie etwas vom verlorenen Sohn gehört hat. Familien, die offen mit Journalisten sprechen, berichten davon, dass sie von der Polizei eingeschüchtert werden.

„Die Härte im Umgang mit Verdächtigen ist problematisch“

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Vater und Onkel suchten Fayal in der Türkei und bezahlten einen Mittelsmann dafür, dabei zu helfen...

Im März 2013 trat Faysals Mutter in einer Talkshow im tunesischen Fernsehen auf, um die Geschichte ihres Sohnes zu erzählen. Zehn Frauen hatten damals zugesagt. Doch alle außer ihr haben im letzten Moment einen Rückzieher gemacht, und sie saß am Ende alleine vor dem Moderator. Auch Faysals Mutter wurde im Vorfeld des Auftritts von den Extremisten aus ihrem Viertel bedroht. „Ich habe meinen Sohn verloren, das ist schlimm genug. Sie können mich ruhig umbringen“, sagt sie damals. Nach wenigen Minuten bricht sie vor laufender Kamera zusammen. Seitdem spricht sie nicht mehr mit der Presse.

 

Als die Mutter im Fernsehstudio sitzt, sind Belgacem und Faysals Vater gerade in der Türkei. Drei Wochen vorher war Faysal von Tunis nach Istanbul geflogen. Sie versuchen, den jungen Mann zu finden und nach Tunesien zurückzuholen. „Im tunesischen Konsulat in Ankara hat man uns gesagt, dass sie nichts für uns tun können.“ Doch sie bekommen einen Tipp und treffen einen Mittelsmann, der den Transfer von Tunesiern an die syrische Grenze organisiert. Gegen 800 Euro erklärt er sich bereit, den 22-Jährigen zu suchen. „Nach ein paar Tagen sagte er, der Junge sei schon in Syrien, da könne er nichts mehr machen.“ Unverrichteter Dinge fahren Vater und Onkel nach Tunesien zurück.

...bis heute geben sie die Hoffnung nicht auf, dass Fayal eines Tages zurückkehrt.

Seitdem bleiben nur noch die Anrufe. Belgacem klammert sich an diese unregelmäßigen Lebenszeichen seines Neffen. Solange dieser lebt, will er die Hoffnung nicht aufgeben, dass er eines Tages nach Tunesien zurückkehrt. „Besser hier im Gefängnis als dort.“

Auch der junge Mann auf dem Titelbild (Foto: Chris Huby/HAYTHAM-REA/laif) plant seine Ausreise nach Syrien. „Warum sollte ich nicht in Syrien sterben anstatt hier in Tunesien? Hier gibt es nichts zu tun...“, sagt er. Sein Gesicht verdeckt er deshalb, weil ihm von radikalen Islamisten verboten wurde, über sein Vorhaben zu sprechen.