Kein Mensch wird gut oder schlecht geboren. Bei moralischen Idealen gibt es eine erstaunlich hohe Übereinstimmung bei allen Menschen, egal ob Mann oder Frau, jung oder alt, arm oder reich. Trotzdem handeln wir nicht immer moralisch. Georg Lind ist Professor für Psychologie an der Universität Konstanz und renommierter Moralforscher. Er sagt, dass man Moral lernen muss - und das so früh wie möglich.
Herr Lind, moralische Ideale zu haben ist nicht genug. Warum?
Das Entscheidende ist: Man muss fähig sein, auch nach diesen moralischen Idealvorstellungen im Alltag zu leben. Und da gibt es bei den Menschen riesige Unterschiede. Bei vielen Menschen gibt es eine Kluft zwischen den eigenen Idealen und dem tatsächlichen Verhalten. Gerade heute, in unserer so komplexen Welt, gibt es immer neue Möglichkeiten, unmoralisch zu sein. Zigaretten, Alkohol und Haschisch - das ist erschwinglich und leicht zu bekommen. Die Versuchungen wachsen immer weiter.
Wer oder was entscheidet denn, wie weit wir unsere moralischen Ideale auch verwirklichen?
Die Eltern und die Schule prägen am meisten. Sie müssen Kinder von Anfang an unterstützen, darüber sprechen, wie man eine moralisch schwierige Situation beurteilt und darauf reagiert. Ich bin sehr oft an Schulen unterwegs, und über drei Viertel der Schüler und Schülerinnen erzählen mir, dass sie noch nie in ihrem Leben mit jemandem über ein Problem geredet haben, das sie bedrückt und ihnen wirklich wichtig ist. Viele Eltern erzählen mir, dass sie überfordert sind mit den Gesprächswünschen ihrer Kinder. Da muss die Schule die Eltern unterstützen, es geht um moralisches Lernen. Denn Erwachsene sind mit noch viel schwierigeren moralischen Konflikten konfrontiert, denen sie sich stellen müssen.
Wie sieht moralisches Lernen aus?
In der Schule wird eine ganze Klasse mit einem Dilemma konfrontiert. Dieses ist so schwierig, dass es nicht wirklich eine Lösung dafür gibt. Ein Beispiel: Ein guter Freund ist betrunken Auto gefahren und hat ein anderes Auto von der Straße gedrängt. Der Fahrer des anderen Autos stirbt bei dem Unfall, und später sucht die Polizei nach dem flüchtigen Unfallfahrer. Die Frage ist jetzt, ob man den besten Freund, der sich anvertraut hat, der Polizei verrät. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern darum, moralische Urteilsfähigkeit zu lernen und in einem so schwierigen moralischen Konflikt zurechtzukommen.
Was passiert, wenn einem Menschen diese moralische Urteilsfähigkeit fehlt?
Wenn man nicht gelernt hat, Situationen moralisch zu beurteilen, kann es zu Gewalt gegen sich oder andere kommen. Man wird wütend, haut drauf. Oder man richtet die Gewalt gegen sich selbst, entwickelt Schuldgefühle, Depressionen, zieht sich zurück. Hinter Gewaltdelikten stehen sehr oft ungelöste moralische Konflikte. Nehmen wir zum Beispiel die Terroristen der RAF: Die Biografien der Mitglieder/innen haben gezeigt, dass sie sehr hohe moralische Ansprüche hatten, aber sie sind an diesen Ansprüchen gescheitert. Es ist ihnen nicht gelungen, moralische Konflikte ohne Gewalt zu lösen.
Kann Moral auch gefährlich werden?
Wenn sie missbraucht wird, ja. In Diktaturen wurde und wird die Moral dazu missbraucht, die Menschen zu unterwerfen und zu disziplinieren. Die Autorität schreibt vor, was moralisch ist und was nicht, und so haben sich die Menschen zu verhalten.
Wie wird die moralische Urteilsfähigkeit gemessen?
Dafür gibt es psychologische Tests. Dabei werden Testteilnehmer/innen in moralische Diskussionen verwickelt. Dann wird geprüft, wie weit sie dabei mitmachen, ob sie sich dagegen sperren. Zum Beispiel wird der Fall einer todkranken Krebspatientin geschildert, die ihren Arzt bittet, ihr so viel von einem Beruhigungsmittel zu geben, dass sie stirbt. Die Frage ist, wie der Arzt sich verhalten soll. Wenn sich die Teilnehmer/innen entschieden haben, werden sie mit verschiedenen Argumenten konfrontiert. An ihren Reaktionen lässt sich messen, wie sehr die moralische Urteilsfähigkeit ausgeprägt ist. Manche reagieren total empört und wollen überhaupt keine Argumente hören. Das ist der niedrigste Grad von moralischer Urteilsfähigkeit. Andere können mit Argumenten nur etwas anfangen, wenn diese die eigene Entscheidung stützen. Moralische Urteilsfähigkeit setzt ein, wenn jemand bereit ist, verwerfliche Argumente, auch wenn sie die eigene Entscheidung stützen, kritisch zu betrachten.
Zum Beispiel?
Nehmen wir noch mal den Fall der Krebspatientin. Ein Argument aus der untersten Schublade für die Sterbehilfe wäre, dass der Arzt richtig handelt, wenn er das Mittel spritzt, weil er dann Geld verdient. Leute mit hoher moralischer Urteilsfähigkeit werden sich gegen ein solches Argument wehren, auch wenn sie sich dafür entschieden hatten, dass der Arzt das Mittel geben soll. Menschen mit niedriger moralischer Urteilsfähigkeit wiederum, die prinzipiell gegen Sterbehilfe sind, setzen dieses schlimme Argument möglicherweise auf eine Stufe mit dem wichtigen Argument, dass der Arzt der Einzige ist, der den Willen der Frau erfüllen kann. Menschen haben ein Problem mit der moralischen Urteilsfähigkeit, wenn sie nicht in der Lage sind, die Qualität von Argumenten zu unterscheiden.
Lisa Zimmermann studiert an der Berliner Journalistenschule.