fluter.de: Frau Neu, laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts fühlt sich unter jungen Erwachsenen jede vierte Person häufig einsam. Lässt sich so ein Gefühl in Zahlen messen?
Claudia Neu: Der European Social Survey fragt Teilnehmer:innen zum Beispiel: Wie oft treffen Sie im Monat Freund:innen, Verwandte und Arbeitskolleg:innen? Das allein ist aber kein Maßstab. Ein Mensch kann sehr viele soziale Kontakte haben und sich trotzdem einsam fühlen. Andersherum kann man sehr wenige Kontakte unterhalten, sich aber überhaupt nicht einsam fühlen. Deshalb unterscheiden wir zwischen dem Gefühl von Einsamkeit und sozialer Isolation. In unserer Studie „Extrem einsam?“ haben wir Teilnehmer:innen ganz direkt nach ihrem Verbundenheitsgefühl gefragt und festgestellt: 55 Prozent der Jugendlichen fehlt manchmal oder immer Gesellschaft, 26 Prozent haben nicht das Gefühl, anderen Menschen nahe zu sein. Ebenfalls rund ein Viertel hat nicht das Gefühl, mit Menschen um sich herum auf einer Wellenlänge zu sein.
Im Mai ist Ihr Buch „Einsamkeit und Ressentiment“ erschienen. Wie hängen die beiden Gefühlswelten zusammen?
Nach einer längeren Phase der Einsamkeit kann sich unsere Welt verdüstern, wir nehmen dann unsere Umwelt als unsicherer wahr. Das ist durch Studien belegt, und es ist ein zutiefst menschlicher Mechanismus. Wir fürchten uns, wenn wir alleine sind, und haben ein dauerhaftes Gefühl von „Wo ist meine Gruppe?“. Entweder jemand sieht das als Weckruf und tut etwas gegen seine Einsamkeit – Freund:innen oder Familie anrufen, sich mal wieder verabreden. Oder wir empfinden das als schmerzhaft, und wir können negative Gefühle gegenüber unserer Umwelt entwickeln – also Ressentiments. Wenn ich meinem Nachbarn schon nicht mehr traue, warum dann der Polizei oder der Politik? Das Vertrauen in den Staat und die Institutionen kann so verloren gehen.
Wie verhält sich so eine Person?
Einsame Menschen ziehen sich oft zurück, gleichzeitig bleibt der Wunsch nach sozialen Kontakten. Und wenn Ressentiment dazukommt, sind diese Menschen oft auf Krawall aus. Sie wollen sich ärgern, finden alles schlimm. Sie haben meist eine persönliche Kränkung erfahren und kanalisieren das nicht in Traurigkeit und Tränen, sondern in Wut und Schuldzuweisung. Oft wendet sich die Umwelt dann erst recht ab. So können sich Einsamkeit und Ressentiment gegenseitig verstärken – der einsame Mensch wird verbittert, und der verbitterte Mensch wird einsam.
„In der Diskussion ist noch, inwieweit die sozialen Medien Einfluss auf Einsamkeit haben. Einerseits entstehen so viele Kontakte, andererseits ersetzen sie keine ‚echte‘ Begegnung“
Einsamkeit unter jungen Erwachsenen ist noch größer als bei älteren Menschen, besagen manche Studien. Wie kommt das?
Zum einen wirkt die Coronapandemie noch nach. Zum anderen war die Zahl einsamer junger Menschen schon immer hoch, das liegt sicher an der Lebensphase: Jugendliche suchen nach Identität, suchen im Außen nach einer Antwort auf die Frage: Wer bin ich, wer soll ich sein? Oft erfährt man bei dieser Suche auch Ablehnung oder Verlorenheit. Vielleicht zerbricht die erste Liebe, oder man fühlt sich von der besten Freundin hintergangen. In der Diskussion ist noch, inwieweit die sozialen Medien Einfluss auf das Entstehen von Einsamkeit haben. Einerseits entstehen so viele Kontakte, andererseits ersetzen sie keine „echte“ Begegnung. Ich kann den anderen auf TikTok nicht riechen oder spüren. Außerdem werden über die sozialen Medien viele rechtsextreme Ideologien und Verschwörungserzählungen verbreitet. Das kann wie ein Verstärker wirken: Negative Ereignisse werden auf den Plattformen besonders hochgespült, das motiviert zusätzlich und unterstützt möglicherweise eine abgeneigte Haltung gegenüber der Demokratie. Generell lag bisher der Fokus bei der gesellschaftlichen Bekämpfung von Einsamkeit eher auf Älteren. Sie lobbyieren besser für sich als Jüngere. Die Jugend hat in unserer Gesellschaft fast keine Lobby, und Studien zeigen, dass das Jugendliche auch so wahrnehmen.
Trotzdem schreiben Sie in Ihrem Buch, dass die Gleichung Einsamkeit + Ressentiment = undemokratische Gefühle nicht aufgeht.
Die Zusammenhänge sind nicht kausal. Nicht jeder einsame Mensch ist ein Rassist. Nicht jeder Extremist ist auch einsam. Wir wissen noch nicht, ab welcher „Einsamkeitsdauer“ sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass jemand antidemokratisch wählt. Aber es kann in diese Richtung gehen, wenn das Gefühl eine Echokammer findet.
Also von Populist:innen aufgegriffen wird?
Genau, denn Leute, die von Einsamkeit betroffen sind, leiden ja unter ihrer Situation. Sie sind immer noch auf der Suche nach Gemeinschaft, nach Anerkennung, nach Freundschaft. Populismus bietet an, wieder Teil einer Gruppe zu sein. Und das ist ja etwas, was Menschen fehlt, die sich einsam fühlen: das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Populist:innen betonen dann auch noch, dass ihre Gemeinschaft höherwertig ist als „die anderen“, zum Beispiel Geflüchtete oder Menschen mit Migrationsgeschichte, von denen sie sich absetzen wollen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, die Politik dürfe die Entwicklung von Einsamkeit in Verbindung mit Ressentiment nicht ignorieren. Was kann die Politik gegen Einsamkeit machen?
Die Bundesregierung hat bereits eine „Strategie gegen Einsamkeit“ verabschiedet. Als Wissenschaftlerin bedaure ich es, dass viel zu wenig Geld für Forschung vorhanden ist. Denn wir wissen ja noch sehr wenig über das komplexe Thema Einsamkeit. Mir kommt es so vor, als wolle das Familienministerium demonstrieren: Seht her, wir machen was! Aber es geht in die richtige Richtung. Zum Beispiel hat das Familienministerium 2021 das Kompetenznetzwerk Einsamkeit ins Leben gerufen, das auf das Thema aufmerksam macht und dafür sensibilisiert. Faktoren für Einsamkeit sind aber auch strukturell bedingt: lang anhaltende Arbeitslosigkeit, Armut, Behinderung. Da kann der Staat ansetzen. Am besten ist immer Prävention – denn ist jemand erst mal in Einsamkeit gerutscht, ist es unwahrscheinlich, dass diese Menschen Angebote wie öffentliche Begegnungsstätten oder Projekte zur Vernetzung überhaupt nutzen, weil man sich schon von der Gesellschaft distanziert hat. Aber das bedeutet nicht, dass man gar nichts tun kann. Die Politik sollte Projekte und Angebote für einsame Menschen fördern, vor allem in der Jugendarbeit. Denn Jugendliche haben noch ihr ganzes Leben vor sich. Da sollten wir alles tun, um zu verhindern, dass sich ihre Einsamkeit chronifiziert.
Wie erreicht man einsame Jugendliche am besten?
Auf den Angeboten sollte nicht groß „gegen Einsamkeit“ draufstehen. Jugendliche müssen erst mal zusammenkommen und Spaß haben. Dann kann man an sozialen Kompetenzen arbeiten und Vertrauen aufbauen. So nimmt man Populist:innen die Chance, das Einsamkeitsgefühl gerade der jungen Leute für ihre Zwecke zu nutzen. Ich glaube, besonders nach der Europawahl ist das Interesse der Politik groß, diesen Zusammenhang zu verstehen.
Können wir als Gesellschaft auch etwas dafür tun, dass Menschen nicht Zuflucht in einem demokratiefeindlichen Umfeld finden?
„Der erste Schritt wäre, hinter Ressentiments keine Boshaftigkeit zu sehen, sondern Leid“
Ich habe oft das Gefühl, wir haben wenig Geduld mit „seltsamen“ Menschen, sind nicht so offen und verurteilen sie schnell. Es würde helfen, wenn wir als Nachbar, Arbeitskollegin und Vereinsmitglieder nicht sofort ablehnend reagieren würden. Ich wünsche mir mehr Freundlichkeit und Großmut. Das heißt, der erste Schritt wäre, hinter Ressentiments keine Boshaftigkeit zu sehen, sondern Leid.
Gleichzeitig verursachen diese Menschen auch oft viel Leid, wie wir im Interview auch schon erfahren haben. Wie findet man da die richtige Balance in der Haltung gegenüber diesen Menschen?
Ich würde sagen: Man sollte sich nicht sofort abwenden und gleichzeitig ganz radikal bei sich bleiben. Wenn jemand zum Beispiel verletzende Dinge sagt, könnte man entgegnen: „Wir können uns gerne unterhalten, aber ich möchte nicht, dass du mich beschimpfst. Vielleicht finden wir ja einen positiven Umgang miteinander.“ Natürlich hilft das nicht immer, aber damit gibt man dem Gegenüber wenigstens eine Chance.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich auch mit der Gestaltung von sozialen Räumen. Inwiefern helfen öffentliche Orte gegen Einsamkeit und Ressentiment?
Populisten und Extremisten wollen den Menschen einreden: Wir müssten gar nichts aushandeln, wenn wir nur wieder „unter uns“ sind, in „unserer Volksgruppe“, ohne Vielfalt. Dann würden sich alle Konflikte wie von Geisterhand lösen. Dabei ist es wichtig, sich gegenseitig furchtbar finden zu dürfen und sich trotzdem als Teil derselben Gemeinschaft anzuerkennen. Wir müssen Konflikte aushalten, wenn wir aufeinandertreffen. Wir brauchen dafür aber auch öffentliche Räume und Begegnungsstätten. Das können öffentliche Parks, Kneipen oder ein Bäcker mit Tischen sein – Orte, an denen man sich milieuübergreifend begegnet. So etwas gibt es zwar in den Städten, aber auf dem Land kaum noch. Man muss nicht unbedingt miteinander ins Gespräch kommen, aber die anderen in der Gesellschaft zu sehen ist auch schon viel wert.
Claudia Neu ist Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel. Das Buch „Einsamkeit und Ressentiment“ hat sie gemeinsam mit ihren Kollegen Jens Kersten und Berthold Vogel geschrieben. Es erschien im Mai 2024.
Portrait: Anna Tiessen
Titelbild: Renke Brandt