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Erzschmerz

Im nordschwedischen Kallak soll bald Eisenerz abgebaut werden. Dabei leben hier seit Jahrhunderten die Indigenen Sámi. Sie fürchten um Land, Arbeit und Tradition

Wer weiß, welche Bedeutung Kallak in Schweden hat, mag enttäuscht sein, wenn er vor Ort ankommt. Mitten in nordschwedischen Wäldern, etwa auf Höhe des Polarkreises, liegt sie da, eine Waldkuppe, häuser- und meist auch menschenlos. Die Leere täuscht: Es geht hoch her in Kallak. Unter dem Hügel sollen knapp 600 Millionen Tonnen Eisenerz begraben liegen – und mit ihnen ein alter Konflikt zwischen den industriellen Interessen Schwedens und der Lebensweise der Indigenen* Sámi. Die Industrie will, dass dort eine Erzmine entsteht; die Indigenen wollen, dass Gállok, wie sie sagen, ein bewaldeter Hügel bleibt. Beide Seiten warteten Jahre auf eine Entscheidung.

Als die fällt, ist Sara-Elvira Kuhmunen in Norwegen, auf einem Hackathon für junge Sámi. Es ist der 22. März 2022, als Schwedens Wirtschaftsminister Karl-Petter Thorwaldsson in Stockholm vor Kameras und Mikrofone tritt und verkündet, dass Gállok eine Mine werden soll. Sara-Elvira, 22, ist Vorsitzende der schwedischen Jugendorganisation der Sámi. Sie kommt aus dem Städtchen Jokkmokk, ganz in der Nähe von Gállok. Die Pressekonferenz mehr als 1.000 Kilometer entfernt verfolgt sie über den Stream, der auf einem großen Bildschirm läuft. Besser: Sara-Elvira versucht, ihn zu verfolgen. Ihr Handy klingelt. Die Leute wollen hören, was sie zu sagen hat. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich in dem Moment empfunden habe“, erzählt sie ein paar Wochen später. „Ich bin auf einer Veranstaltung mit jungen Sámi, möchte eine Inspiration sein, über unsere Zukunft sprechen und was wir aus unserer Kultur machen können. Und genau dann kommt die Regierung mit dieser Entscheidung.“

„Es ist immer dasselbe: Unternehmen kommen, nehmen sich das Beste und lassen die Bevölkerung mit den Konsequenzen allein“

Schon seit 2006 plant Beowulf, ein britisches Unternehmen für sogenannte Geo-Explorationen, Gálloks Erz abzubauen. Dafür hat Beowulf die schwedische Tochter Jokkmokk Iron Mines gegründet. Sie plant eine offene Mine auf 13,6 Quadratkilometern. Die Bergbaubehörde hat dem Antrag zugestimmt, die Regionalverwaltung hat ihn abgelehnt. Also entschied die Regierung. Die sogenannte Bearbeitungskonzession, die sie ausstellte und von Wirtschaftsminister Thorwaldsson im März verkünden ließ, ist kein Freifahrtschein zum Abbaggern. Jokkmokk Iron Mines muss weitere Genehmigungen einholen, was noch ein paar Jahre dauern kann, und Bedingungen erfüllen, die die Regierung aufgestellt hat. Die meisten beziehen sich auf die lokale Rentierhaltung. Die Mine solle etwa „so wenig Land wie möglich beanspruchen“, der Betreiber für die Kosten aufkommen, wenn die Rentiere per Lkw transportiert werden müssen, weil ihre Routen gestört sind.

Sara-Elviras Familie hat schon immer Rentiere gehalten. „Die Rentierhaltung ist, was unsere Vorfahren getan haben und was wir unseren Kindern weitergeben“, sagt sie. „Wir wissen nicht, was mit uns Sámi geschieht, wenn wir dieses Erbe verlieren.“ Sara-Elviras Vater ist Vorsitzender von „Sirges“, einem der Sámi-Dörfer, die durch die Mine beeinträchtigt wären. Ein sogenanntes Sámi-Dorf ist eine Art Wirtschaftsverband der Rentierhalter*innen in einer Region.

Auf der Karte erstreckt sich „Sirges“ als schmaler Streifen von der Mitte Schwedens bis nach Norwegen. Im Frühjahr ziehen die Rentierherden quer durch die Region in die Berge, eine ihrer traditionellen Routen führt durch Gállok. Entsteht dort eine offene Grube, wäre die Route unterbrochen, ein Stück Weideland verloren. Vor allem aber wäre Gállok der nächste Flecken Land, den die Sámi an Industrieprojekte verlieren. Und das macht den Konflikt so komplex.

„Es wird erwartet, dass wir mit der Mine koexistieren. Aber niemand sieht, dass wir uns seit hundert Jahren an Industrieprojekte in unserer Landschaft anpassen müssen“, sagt Henrik Blind. Der 43-Jährige ist Lokalpolitiker der Grünen in Jokkmokk, selbst Sámi und führt den Widerstand gegen die Mine mit an. „Es ist immer dasselbe“, sagt Blind. „Unternehmen kommen von außen, nehmen sich das Beste und lassen die Bevölkerung mit den Konsequenzen allein.“

Als Indigenes Volk haben die Sámi in Schweden eigentlich besondere Rechte

Das Auto biegt auf die Straße Richtung Gállok ein, Blind deutet aus dem Fenster. Auf Stauseen, Umspannwerke, abgetragene Berge und junge Wälder, die so dicht bepflanzt seien, dass die Rentiere nicht hindurchlaufen.

Blind könnte den Weg nach Gállok im Schlaf fahren, er war oft hier in den vergangenen zehn Jahren. Jetzt im Frühjahr schmilzt der Schnee, Blind sackt auf dem Waldweg immer wieder ein. Er weist auf eine Lichtung, auf der über die Jahre Proteste und 2013 ein großes Konzert stattgefunden haben. Ein paar Schritte weiter und man sieht am Horizont die Gipfel des Sarek-Nationalparks. Er gehört zur Kulturlandschaft Laponia, einem UNESCO-Weltnaturerbe, das 35 Kilometer nördlich der geplanten Mine beginnt. Noch vor der Entscheidung warnten UN-Menschenrechtsexpert*innen, die Mine könne Luft und Wasser verschmutzen – und ermahnten die schwedische Regierung, die lokalen Sámi ausreichend zu konsultieren. Alle zentralen Sámi-Organisationen in Schweden sprachen sich gegen das Projekt aus. „Wir Sámi brauchen dieses Land, um zu verstehen, woher wir kommen, und um in Zukunft überleben zu können“, sagt Henrik Blind.

 

Als Indigenes Volk haben die Sámi in Schweden besondere Rechte. Das Land hat mehrere internationale Konventionen ratifiziert und Gesetze verabschiedet, die den Sámi weitreichende Mitbestimmung über ihre Lebensräume einräumen. Damit reagiert Schweden auch auf die Geschichte der Minderheit. Über Jahrhunderte wurden Sámi gezwungen, sich in schwedischen Schulen zu assimilieren oder ihre Siedlungsgebiete zu verlassen, wenn etwa Rohstoffe gefunden wurden. Diese Geschichte schwingt mit, als Sara-Elvira Kuhmunen auf Schwedens Wirtschaftsminister Thorwaldsson trifft.

Stockholm, ein Freitagmittag im Februar, Wochen vor der Verkündung, dass Gállok zur Mine werden soll. Auf dem Platz vor dem Parlament, auf dem Greta Thunberg seit mehr als 200 Wochen streikt, haben sich heute mehr Menschen versammelt als sonst. Der Himmel ist blau, von der Ostsee zieht ein eisiger Wind herüber. Sara-Elvira steht mit anderen Aktivist*innen im Kreis, sie fällt durch ihre samische Tracht, glitzernde Haarspangen, Ohrringe und Fingernägel auf. 70.000 Menschen aus mehreren Ländern haben eine Petition gegen die Mine unterschrieben. Sara-Elvira ist aus Jokkmokk angereist, um sie dem Wirtschaftsminister zu überreichen. Später wird sie erzählen, sie habe bereits bei der Übergabe ein schlechtes Gefühl gehabt. „Thorwaldsson hat versucht, mir zu erklären, dass die Mine unverzichtbar für die grüne Transformation in Schweden ist.“ Da sei ihr im Grunde klar gewesen, wie der Minister zur Mine steht.

In Gállok gibt es Eisenerz, mit dem man grünen Stahl herstellen kann – behaupten Bergbauunternehmen

Die „grüne Transformation“ ist das Zauberwort in Schweden. Bis 2045 möchte das Land klimaneutral sein. Die Industrieprojekte in Nordschweden – Windkraftanlagen, Rodungen für Biotreibstoff, Bergbau – sollen zu diesem Ziel beitragen. Für den Übergang zu einer grünen Wirtschaft müssten auch kritische Rohstoffe wie Eisenerz nachhaltig gewonnen werden, heißt es auf der Beowulf-Webseite. Denn: „Das Ziel unseres Unternehmens ist es, den Klimanotstand anzugehen.“

Eisenerz ist ein wichtiger Rohstoff für die Stahlindustrie, die sieben Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortet. Etwa 90 Prozent des europäischen Eisenerzes fördert das schwedische Bergbauunternehmen LKAB, das auch nach Deutschland exportiert. In Nordschweden betreibt LKAB die zwei größten Untertage-Eisenerzminen der Welt. Um den gefragten Rohstoff weiter abbauen zu können, lässt LKAB sogar das Städtchen Kiruna versetzen – mitsamt einer mehr als 100 Jahre alten Kirche. Das Unternehmen arbeitet an Methoden, klimaneutralen Stahl herzustellen. Dabei hilft ein hoher Eisenanteil im Erz – den Jokkmokk Iron Mines nach eigenen Angaben in Gállok gefunden hat.

Henrik Blind (Foto: Paul Wennerholm / picture alliance / TT NYHETSBYR?N )
Lokalpolitiker Henrik Blind auf dem Weg durch Jokkmokk. Das Städtchen ist bei Touristen beliebt – aber vor allem das kulturelle Zentrum der Sámi in Schweden (Foto: Paul Wennerholm / picture alliance / TT NYHETSBYR?N )

Die Bohrkerne von den Probebohrungen liegen in Holzkisten in einer Garage in Jokkmokk. Morgan Snell hat den Schlüssel. Er ist 28, Vater dreier Kinder und derzeit der einzige Mitarbeiter von Jokkmokk Iron Mines. Wenn es mit der Mine klappt, soll er 250 Kolleg*innen bekommen. Beowulf behauptet, sie für 25 Jahre beschäftigen zu können, wenn man die Mine um einen Abschnitt erweitern würde. Arbeitsplätze sind ein gewichtiges Argument für viele in Jokkmokk. „Viele meiner Freunde pendeln zur Arbeit in andere Bergwerke und Städte. Sie sind nur am Wochenende hier. Das ist hart für sie und ihre Familien“, sagt Snell. Für ihn wäre die Mine der Aufschwung, den Jokkmokk braucht, und die einzige Möglichkeit, die Gesundheitsversorgung und die Bildungseinrichtungen vor Ort zu sanieren. Er glaubt daran, mit der Kommune und den Sámi-Communitys eine Lösung zu finden, die für alle aufgeht.

Können Indigene und Industrie koexistieren?

Henrik Blind glaubt nicht an so eine Lösung. „Koexistenz hat in der Vergangenheit immer bedeutet, dass Sámi zurückstehen mussten. So ist das bei Kompromissen: Die Minderheit verliert.“ Ihm ist wichtig, dass es dabei nicht nur um Gállok geht, sondern um globale Zusammenhänge. „Wir können nicht so weitermachen, als wären wir die letzte Generation.“ Blind spricht von Wegen, in Harmonie mit dem Land zu leben, und viel von der Klimakrise. Tatsächlich verzeichnet ausgerechnet Jokkmokk den größten Temperaturanstieg in ganz Schweden: Im Jahresdurchschnitt ist es hier (im Vergleich zum Ende des 19. Jahrhunderts) 2,1 Grad heißer geworden.

Die Rentiere und ihre Halter*innen bekommen das zu spüren. Der Schnee fällt nicht mehr zuverlässig, die Herden passen sich nur langsam an. „Als hätten Rentierhalter*innen eine tickende Uhr gegen sich“, sagt Blind. Ob eine Mine in Gállok ihre Situation zusätzlich erschwert, wird sich erst in Jahren zeigen. Sara-Elvira hat sich vorerst gegen die Rentiertradition ihrer Familie entschieden. Sie möchte die samische Kultur anders aufrechterhalten, in der Jugendorganisation und mit ihrer Musik. Im April wurde sie mit einem eigenen Joik, dem traditionell samischen Gesang, Zweite beim Grand Prix der Sámi. Das Lied heißt übersetzt „Fröhlicher sein“.

* Wir schreiben „Indigen“ groß, um zu verdeutlichen, dass der Begriff eine politische Selbstbezeichnung von Menschen ist, die rassistische Diskriminierung erfahren.

Titelbild: Carl-Johan Utsi / Guardian / eyevine / laif

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