Auf hoher See, mehr als tausend Kilometer von der kalifornischen Küste entfernt, befindet sich der „Great Pacific Garbage Patch“ – von Naturschützern gerne als Kontinent aus Plastik bezeichnet. Luftströme und die Erdrotation bewegen das Wasser und formen Strömungen, die Millionen Tonnen Plastikmüll zusammentragen; ein Meereswirbel hält ihn fest. Laut der französischen Weltraumagentur CNES umfasst das Gebiet etwa 3,4 Millionen Quadratkilometer. Es ist so groß wie Zentraleuropa.
Oft ist der Müll kaum größer als ein Sandkorn, nur selten treiben Plastiktüten oder Kanister über die Meeresoberfläche. Daher passt das Bild des Kontinents nur bedingt. Eine geschlossene Mülldecke gibt es nicht, kritisch ist die Lage trotzdem. „Für ein Gebiet, das so weit weg vom Festland liegt, treibt zu viel Müll in diesen Gewässern, auch wenn man vom Schiff aus vor allem Meer sieht“, sagt Lars Gutow vom Alfred-Wegener-Institut. Hauptgrund dafür: An der Oberfläche treibt nur ein kleiner Teil der gut 140 Millionen Tonnen Abfall in den Weltmeeren. 70 Prozent sinken hinab in die Tiefe.
Andererseits passt das Bild des Kontinents erstaunlich gut. Kaum landet der Plastikmüll im Meer, beginnt nämlich seine Besiedlung, egal in welcher Tiefe, egal in welcher Größe.
Die ersten Bewohner sind mikroskopisch kleine Bakterien und Einzeller. Auf der Oberfläche bilden sie einen sogenannten Biofilm – die Grundlage für weitere Mitbewohner wie Entenmuscheln. Im Laufe der Zeit entsteht selbst auf kleinsten Plastikpartikeln eine Artengemeinschaft im steten Wandel. Manchmal sinkt der Müll durch die Last seiner Bewohner in die Tiefe. Nicht angepasste Organismen sterben ab, und das Plastik steigt wieder auf. Ein Jo-Jo-Effekt.
Ungewöhnlich ist die rasche Besiedlung nicht. Ähnliches lässt sich an den Fundamenten von Offshore-Windrädern in der Nordsee beobachten. Auch hier siedeln sich innerhalb weniger Tage einzellige Algen an. Ihnen folgen Seepocken, Muscheln und andere wirbellose Tiere. Bei günstigen Bedingungen herrscht innerhalb von einem Jahr am Fuße des Windparks blühendes Leben. Ein Grund dafür: Der Meeresboden in der Nordsee ist sandig. Steine oder gar Riffe gibt es nicht. Die schweren Fundamente der Windräder sind für die Meeresbewohner eine willkommene Abwechslung.
Auch die Vielfalt der Lebewesen auf den maritimen Plastikpartikeln kann sich sehen lassen. Gutow und seine Kollegen haben bei einer Metaanalyse etwa 414 verschiedene auf dem Müll lebende Arten ausgemacht. „Häufig sind es Organismen, die fest mit dem Müll verbunden sind und ihre Nahrung aus dem Wasser herausfiltern“, sagt der Biologe. Häufig, aber nicht nur. Meerwasserläufer zum Beispiel legen ihre Eier auf Plastikteilen an der Wasseroberfläche ab, die oft weniger als fünf Millimeter groß sind. Für sie ist Treibgut die einzige mögliche Brutstätte. Diese Insektenart kommt auf dem Ozean vor, weitab vom Land. Früher dienten ausschließlich im Wasser treibende Holzstücke, Muschelschalen oder Vogelfedern als Ablage für ihre Eier, durch den Müll haben sich ihre Chancen auf Fortpflanzung erhöht.
Auf einem Plastikgefäß waren mehr als 70.000 Eier
In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Menge der Plastikteile im Meer verhundertfacht. Auch die Zahl der Meerwasserläufer im Nordpazifik stieg deutlich, berichten Forscher von der University of California in einer 2012 im Fachjournal „Biology Letters“ veröffentlichten Studie. „Wo viel Plastikmüll trieb, fanden wir auch viele Wasserläufer und deren Eier. Auf den Abfällen entwickeln sich die Larven ungestört“, schreibt Miriam Goldstein, leitende Autorin der Studie. Andere Forscher fanden auf einem Plastikgefäß sogar mehr als 70.000 Eier.
Über die steigende Zahl der Meerwasserläufer freuen sich vor allem Vögel und Fische. Für sie sind die Insekten fester Bestandteil des Speiseplans. Und auf den ersten Blick erscheinen Effekte wie größere Artenvielfalt oder neue Nahrungsquellen positiv. Doch ganz so einfach ist es nicht, wie Goldstein betont. Aus Sicht der US-Forscherin könnte es durch die vielen Meerwasserläufer zu einer Verschiebung der gesamten Nahrungskette kommen. Im schlimmsten Fall verändert sich das ganze Ökosystem.
Auch Gutow beobachtet die Entwicklung mit gemischten Gefühlen. „Wir können nur sagen, dass es eine hohe Artenvielfalt auf dem Plastik gibt. Welche konkreten Auswirkungen das auf die Umgebung hat, lässt sich schwer sagen“, erklärt er. Eine Befürchtung: Wie Schiffe bringen die schwimmenden Plastikteile Tiere und Pflanzen in Regionen jenseits ihrer natürlichen Lebensräume. Die fremden Arten könnten empfindliche Ökosysteme aus dem Gleichgewicht bringen.
„Es ist in der Praxis schwer nachweisbar, ob neue Arten tatsächlich durch Plastikteile gekommen sind. Auch wenn es dafür erste Indizien gibt“, sagt Gutow. In der Nordsee wurde schon 2005 eine fremde Meeresasselart entdeckt –sie siedelt besonders gerne auf Plastikmüll.
Birk Grüling ist auch einer, der sich durch nichts so leicht unterkriegen lässt. Er ist im niedersächsischen Niemandsland aufgewachsen, hat Kultur-Journalismus studiert und schreibt als freier Journalist unter anderem für die Zeit, taz, jetzt.de und Spiegel Online. 2014 wurde er vom Medium Magazin unter die Top 30 der Nachwuchsjournalisten gewählt.