Stell dir vor, du wärst in China auf dem Land geboren und 18 Jahre alt. Dann würdest du mit großer Wahrscheinlichkeit jetzt in einer Fabrik weit weg von deinem Heimatdorf arbeiten und MP3-Player oder Markenjeans für Jugendliche in Europa produzieren. Und das zehn bis zwölf Stunden an sieben Tagen in der Woche. Das hält kein Mensch aus? Genau deswegen protestieren immer mehr junge Wanderarbeiter in China
Fast wäre der Vorfall ungeahndet geblieben, in diesem Land mit seinen mehr als 1,3 Milliarden Einwohnern, darunter 150 bis 200 Millionen Bauerntöchter und -söhne, die in die Städte ziehen, um dort in den Fabriken zu arbeiten. Die für eine 70-Stunden-Woche nur einen kargen Lohn bekommen, nicht krankenversichert sind und auch kein Recht haben, sich dauerhaft anzusiedeln. Wen also sollte es schon groß kümmern, wenn eine Frau aus diesem Millionenheer umgebracht wird? So muss wohl der 21-jährige Yao Jiaxin gedacht haben, Student aus der Familie eines pensionierten Vizegenerals, vielversprechender Nachwuchspianist am Musikkonservatorium von Xi’an – und Mörder einer jungen Wanderarbeiterin und Mutter, die er erstach, weil sie nach einem von ihm verursachten Verkehrsunfall sein Nummernschild aufschreiben wollte. Dass Yao nicht davonkam, war den hitzigen Diskussionen im Internet geschuldet, dem massenhaften Ruf nach der Todesstrafe in den Blogs. Tatsächlich wurde der Student im Juni hingerich- tet – auch, weil die chinesische Regierung kein Interesse daran hat, dass die Wanderarbeiter gegen ihre Behandlung demonstrieren, anstatt zu arbeiten.
Zu arbeiten ohne große Sicherheitsbestimmungen. Ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit. Am besten rund um die Uhr.
Vor 30 Jahren lebten in der Stadt Shenzhen gerade mal 30.000 Menschen, heute sind es zwölf Millionen, darunter viele Arbeiter vom Land, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen. 400.000 sind es allein bei der taiwanesischen Firma Foxconn im Industriekomplex Longhua, einer der größten Fabrikanlagen der Welt. Foxconn produziert für Computerfirmen wie Apple, Hewlett-Packard und Dell und machte im vergangenen Jahr Schlagzeilen, als mindestens 16 junge Wanderarbeiter wegen der widrigen Arbeitsbedingungen auf dem Werksgelände Selbstmordversuche unternahmen, von denen zwölf tödlich ausgingen. Die Opfer waren zwischen 18 und 25 Jahre alt. Foxconn und Apple bedauerten die Selbstmorde, wiesen aber gleichzeitig die Verantwortung von sich. Apple-Chef Steve Jobs sagte dem englischen Sender BBC, dass es in Longhua Restaurants, Kinos, Krankenhäuser und Schwimmbäder gäbe, alles zum Wohle der Arbeiter. Doch die entgegneten, dass sie vor lauter Überstunden gar nicht dazu kämen, die Freizeitanlagen zu nutzen.
Flucht aus der dörflichen Enge
Dass Millionen Bauernkinder überhaupt bereit sind, trotz schlechter Arbeitsbedingungen in den Fabriken Chinas zu arbeiten, liegt auch an ihrem Wunsch, der dörflichen Enge zu entfliehen und der Tradition: In ländlichen Regionen suchen immer noch viele Eltern die zukünftigen Ehepartner für ihre Kinder aus. Besonders für junge Frauen bietet sich durch die Arbeit in der Stadt die Möglichkeit, eigenes Geld zu verdienen, anstatt in der Familie des Ehemannes nur Hausfrau und Bäuerin zu sein. Viele Wanderarbeiter träumen davon, in der Stadt einen zukünftigen Ehepartner kennenzulernen, den sie wirklich lieben. Es ist auch leichter als zu Hause, mit einem Mann oder einer Frau zusammen zu sein, ohne gleich heiraten zu müssen. Allerdings sind die Löhne trotz leichter Steigerung immer noch viel zu niedrig, um sich eine eigene Wohnung zu mieten. 90 Prozent der Wanderarbeiter wollen nicht mehr in die Dörfer zurückgehen, aber nur die wenigsten können sich eine eigene Wohnung in der Stadt leisten. Die große Mehrheit lebt in Wohnheimen auf dem Firmengelände, in denen das soziale Leben 24 Stunden am Tag überwacht wird.
Dass ihnen ein sozialer Aufstieg verwehrt bleibt, hat in China quasi System. Denn eins werden die Millionen Jugendlichen bei ihrer Flucht in die Stadt nicht los: den Makel, Bürger zweiter Klasse zu sein. Das sogenannte Hukou-System teilt die gesamte Bevölkerung in die Kategorien „Agrar“- und „Nicht-Agrar“-Haushalte ein. Wer den ländlichen Hukou-Status hat, besitzt zwar ein Anrecht auf ein Stück Land in seinem Heimatdorf, dafür aber darf er sich als Bauer nicht langfristig in den Städten niederlassen, er bekommt keine Sozialleistungen, und seine Kinder dürfen keine öffentliche Schule kostenlos besuchen. Doch gegen das Schicksal, als Arbeitssklaven zum Aufschwung Chinas zur Wirtschaftsweltmacht beizutragen, erheben sich immer mehr. Nach Angaben eines Soziologen der Tsinghua-Universität soll es allein im vorigen Jahr in China über Hunderttausend sogenannte Massenzwischenfälle gegeben haben – das sind Demonstrationen, Streiks, kollektive Petitionen, Blockaden von Regierungsgebäuden, Straßen oder öffentlichen Plätzen sowie andere „Störungen der öffentlichen Sicherheit“. Im Sommer letzten Jahres legten die Arbeiter die Produktion in Honda- und Toyotawerken durch Streiks lahm, obwohl streiken in China nicht ungefährlich ist. Immer noch reagiert die Kommunistische Partei mit aller Härte darauf, unabhängige Gewerkschaften gibt es nicht. Streiks in einzelnen Betrieben werden zwar in der Regel toleriert, versuchen die Arbeiter allerdings auf die Straße zu gehen und sich zu solidarisieren, ist mit Verhaftungen zu rechnen.
Ein bisschen mehr Lohn gibt es schon
Wenn die Wut zu groß wird, kommt es trotzdem zu Aufständen. Wie Anfang Juni 2011 in der südchinesischen Stadt Zengcheng. Die Stadt ist ein Symbol der globalen Arbeitsteilung und der sozialen Hierarchien in China. Etwa ein Drittel aller weltweit produzierten Jeans werden in den 3.000 Fabriken der Stadt von über 140.000 Wanderarbeitern genäht. Die protestierten tagelang gegen staatliche Willkür; Polizeiwagen und Regierungsgebäude brannten. Erst nach der Entsendung von 2.700 sogenannten Anti-Riot-Polizisten konnten die Demonstranten auseinandergetrieben werden. Die Unruhen in Zengcheng sind kein Einzelfall. Einige Tage zuvor entstand in der Stadt Chaozhou aus einer Demonstration von 200 Wanderarbeitern ein regelrechter Aufstand. Die Proteste entbrannten, weil ein Firmenchef einen Wanderarbeiter und dessen Sohn zusammenschlagen ließ, als die beiden die Auszahlung ihres ausstehenden Lohns verlangten. Der Chef und seine beiden Helfer wurden mittlerweile verhaftet, um weitere Unruhen zu verhindern. In der Stadt Lichuan protestierten rund 1.500 Demonstranten vor einem Regierungsgebäude, nachdem ein Beamter, der Korruptionsfälle untersuchte, am 4. Juni in Polizeigewahrsam gestorben war. Am 10. Juni zündete ein frustrierter Bürger Bomben in einem Regierungsgebäude der Hafenstadt Tianjin. Bereits Anfang des Jahres hat die Regierung ein „Sicherheitspaket“ beschlossen, um die Anti-Riot-Polizei weiter aufzurüsten. Der Kommunistischen Partei Chinas kommen die Unruhen derzeit besonders ungelegen, da sie in diesem Jahr ihr 90-jähriges Bestehen feiert.
Dabei hat es die Regierung mit einer neuen Generation von Wanderarbeitern zu tun, die selbstbewusster ist als ihre Eltern. Viele wollen auf keinen Fall in die Dörfer zurückkehren, die meisten haben nicht mal mehr gelernt, wie man ein Feld bestellt. Sie sind gebildeter als ihre Eltern und haben in der Regel die Mittelschule abgeschlossen. Diese junge bäuerliche Arbeiterklasse fordert Lohnerhöhungen um 30 Prozent und viel mehr Freizeit. Ihr Antrieb ist der Wunsch nach Teilhabe am städti- schen Wohlstand. Der Partei ist klar, dass sie allein mit Repressionen das Land nicht befrieden kann. Ein Think-Tank des Staatsrats warnte jüngst in einer Studie, dass die unzufriedenen Wanderarbeiter zu einer Gefahr für die soziale Stabilität des Landes werden könnten, falls sie in den Städten nicht besser behandelt würden. Bisher konnte die chinesische Regierung verhindern, dass aus lokalen Protesten eine landesweite Bewegung entsteht. Die Regierung um Präsident Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao ist relativ geschickt, lokale Funktionäre als Sündenböcke für Probleme hinzustellen und sich selbst als Anwalt der kleinen Leute zu inszenieren. Die Abschaffung des Hukou-Systems, das Stadt- und Landbewohner in zwei Klassen teilt, ist allerdings in absehbarer Zukunft wohl nicht geplant. So bleibt den jungen Wanderarbeitern nichts anderes übrig, als weiter für ihre Rechte zu kämpfen. Ein Zurück gibt es nicht.