Der Leopoldplatz in Berlin-Wedding kurz nach Sonnenuntergang. Leuchtreklamen flimmern, Busse halten, Menschen streifen durch die Straße, und die wenigsten von ihnen sehen danach aus, was manche heute „biodeutsch“ nennen – also äußerlich der Mehrheit entsprechend. In dem Berliner Viertel hat jeder Zweite einen Migrationshintergrund. In ganz Deutschland gilt das für jeden vierten Menschen. Nur in Film- und Fernsehen sieht man sie recht wenig.
Der „Karakaya Talk“, von dem hier heute die neue Folge in einem Hinterhof aufgezeichnet wird, will das ändern. In der wöchentlichen YouTube-Talkshow diskutiert Initiatorin und Moderatorin Esra Karakaya etwa darüber, ob die Serie „4Blocks“ authentisch ist, ob man den Musiker R. Kelly stummschalten oder das Kopftuch tragen soll.
Das Thema heute: Wie kann ich am wirksamsten politisch aktiv werden? Über Parteien oder durch Proteste auf der Straße? Für beide Positionen sind jeweils zwei Gäste eingeladen: Auf der einen Seite der Antirassismus-Aktivist Kofi Shakur, der sich beispielsweise für die Aufklärung des Todes von Oury Jalloh einsetzt und Ed Greve, der sich als Vorstand der NGO LesMigraS für Barrierefreiheit und LGBT-Akzeptanz engagiert, auf der anderen Roham Soleimani von der Kleinpartei „Die Urbane. Eine HipHop Partei“ und Aminata Touré von den Grünen.
Zwei Stunden vor der Aufzeichnung sitzt Esra Karakaya an dem Holztisch, an dem später die Gäste diskutieren werden, und geht noch einmal den Ablauf durch. Sie trägt ein Kopftuch, auf dem das Louis-Vuitton-Karomuster schimmert. An der unverputzten Ziegelwand hinter ihr hängt das aus Neonröhren geformte Logo der Sendung, das die neue Grafikerin designt hat. „Die liefert dir Sachen, da denkst du dir, es ist einfach nur ein Segen, in einem Team zu arbeiten“, schwärmt Karakaya. So war das nämlich nicht immer. „Karakaya Talk“ hieß vorher „Black Rock Talk“, und eine Grafikerin, eine Redaktion oder ein Social-Media-Team gab es nicht. „Die ‚Grafiken‘ hab ich am Anfang selbst gemacht“, sagt Karakaya, die zwar schnell redet, sich aber Zeit nimmt, bevor sie antwortet.
Der Karakaya-Talk wurde vom Ein-Frau-Graswurzelprojekt zum öffentlich-rechtlichen Format
Lange wurmte es die 27-Jährige, die in Berlin aufgewachsen ist, dass ihre eigene Lebensrealität medial kaum abgebildet wird. Rassismus gehörte schon immer zu ihrem Alltag. Die Idee für die Talkshow kam ihr jedoch erst, als sie an einen persönlichen Tiefpunkt gelangte. Ihr Masterstudium in Medienwissenschaften fand sie wenig erfüllend, und auch sonst wusste sie nicht so recht, wohin mit sich. Ein Lifecoach empfahl ihr, ihre Wünsche ans Leben einfach mal aufzuschreiben. Heraus kam ein Talkshowkonzept, dass sie „Black Rock Talk“ nannte – nach ihrem türkischen Nachnamen Karakaya („schwarzer Fels“). Erste Moderationserfahrungen sammelte sie bei dem Berliner Sender ALEX TV, bei dem sie einige Zeit als Videojournalistin arbeitete. Ansonsten holte sie sich viel Inspiration von anderen YouTube-Formaten und -Moderatoren.
Im Frühjahr 2018 schmiss sie ihr Studium, trommelte Freunde und Bekannte zusammen, lieh sich das notwendige Equipment und drehte die erste Folge, die im Juni 2019 auf YouTube veröffentlicht wurde. Keiner verdiente daran einen Cent: „Als alles anfing, habe ich gesagt: ‚Ich kann euch nicht bezahlen. Aber ich gebe euch mein Versprechen, dass ich an einer Finanzierung arbeite.‘“ Und die kam dann auch – knapp ein Jahr später. Der öffentlich-rechtliche Jugendkanal funk wurde auf das Projekt aufmerksam und ermöglichte die Pilotfolge von „Karakaya Talk“, die im November vergangenen Jahres erschien und die über die Fortsetzung entscheiden sollte. Seither wird das Format offiziell von funk produziert und finanziert. Mit Erfolg: Der Talk ist für den Grimme-Preis nominiert.
Zuhören statt Klugscheißen … gilt für Publikum und Talkgäste gleichermaßen
„RUHE BITTE“, raunt der Herstellungsleiter durch das Studio. Im Nebenzimmer werden nun Vorstellungsvideos der Gäste gedreht. Karakaya hat ihren Arm schwesterlich um eine Kollegin gelegt. In der erzwungenen Stille müssen sich einige aus dem Team das Lachen verkneifen.
Am Konzept der Sendung hat sich durch die Namensänderung prinzipiell nichts verändert. Menschen „aus den hinteren Reihen der Gesellschaft“, wie Karakaya es nennt, sollen hier eine Plattform bekommen. Schaut man sich die bisherigen Folgen an, fällt schnell auf, dass es selten um ökonomische Probleme geht. Dabei könnte man meinen, diese würden sozial benachteiligte Menschen am meisten umtreiben. Der rote Faden ist am ehesten Rassismus: Begriffe wie „white/weiß“ und BIPOC (Black, indigenous, People of Color) fallen routiniert in den Gesprächsrunden, eine identitätspolitische Färbung nach US-amerikanischem Vorbild ist unverkennbar.
Trotzdem versteht sich „Karakaya Talk“ nicht als „Antirassismus-Format“. Gäste jeglicher politischen Position seien willkommen, betont Karakaya. Ausschlaggebend sei die Bereitschaft zuzuhören. „Keiner hat was davon, wenn Leute hier sitzen, um sich selber darzustellen – und solche Leute gibt es überall. Es geht viel mehr darum, wie wir diskutieren. Ich glaube, Kommunikation funktioniert gerade dann besonders gut, wenn wir Respekt und Empathie als Basis haben.“
Kontrovers soll es aber schon sein. Nachdem die Anmoderation in mehreren Takes aufgenommen und das Publikum jedes Mal zum euphorischen Klatschen angewiesen wurde, kommt die Diskussion ins Rollen. Mit politischen Parteien wird hart ins Gericht gegangen, ihnen werden undurchlässige Strukturen und wenig Handlungsmöglichkeiten vorgeworfen. Die Gäste beziehen klar Position. Am auffälligsten ist das bei Aminata Touré. Die 27-Jährige ist die jüngste und erste afrodeutsche Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags. Sie verdeutlicht, wie ignorant die Frage ist, ob sie nicht bloß Maskottchen ihrer Partei sei. Sie selbst habe sich ihre Position erarbeitet.
Immer wieder melden sich auch die Publikumsgäste zu Wort, mit und ohne explizite Aufforderung. Beim Thema Sozialpolitik verzieht eine junge Deutschtürkin das Gesicht und macht ihrem Unmut über die politische Situation Luft. Eine Muslima mit Kopftuch, die nicht über den Islam referiert, sondern über parteipolitische Positionen diskutiert – so was ist in deutschen Talkshows bislang kaum zu sehen.