Wann darf der Staat enteignen?
Das Grundgesetz regelt klar: Damit Bund, Länder oder Gemeinden Grundstücksbesitzern oder Unternehmern ihr Eigentum wegnehmen dürfen, muss ein triftiger Grund vorliegen, und der Staat muss eine Entschädigung zahlen. Abhängig davon, wo das Grundstück liegt und wofür es gebraucht wird, bestimmen viele weitere Gesetze – zum Beispiel das Bundesfernstraßengesetz –, wann der Staat enteignen darf. Ganz allgemein gilt aber: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“, so steht es im Grundgesetz, Artikel 14 Absatz 3.
Wer profitiert von einer Enteignung?
Oft geht es bei Enteignungen um den Ausbau der Infrastruktur wie Autobahnen oder Bahngleise. Es sind also Projekte, von denen, in den Augen der politischen Entscheidungsträger, die Mehrheit der Gesellschaft profitiert. Wenn die Einwohner einer Stadt durch eine neue Umgehungsstraße mehr Ruhe und weniger Autounfälle im Ortskern haben, wäre das womöglich gegeben. Manchmal ist der Nutzen für die Allgemeinheit aber umstritten. Zum Beispiel hat der Staat auch schon Menschen und Unternehmen enteignet, weil die Grundstücke für den Kohleabbau gebraucht wurden – so geschehen beim Tagebau Garzweiler in Nordrhein-Westfalen und in der sächsischen Lausitz. Das enteignete Grundstück geht dann an den Bauherrn, also zum Beispiel den Bund, Städte oder eben Energieversorgungskonzerne wie RWE. Der Streitpunkt ist dabei immer wieder der gleiche: Ist die Energieerzeugung mit Kohle und so die Energieversorgung der Allgemeinheit wichtiger als das Recht auf privates Eigentum? Darüber streiten sich bis heute Verbände und Interessengruppen. Fakt ist aber: Viele Ortschaften sind schon lange dem Bagger zum Opfer gefallen.
Wie läuft eine Enteignung ab?
Ist zum Beispiel eine Stadtverwaltung der Ansicht, sie brauche ein Grundstück für ein wichtiges Projekt, muss sie dem Grundstücksbesitzer erst mal ein vernünftiges Angebot machen. Der Bauherr bespricht das Vorhaben mit dem Eigentümer und schlägt einen Kaufpreis vor, der sich am marktüblichen Preis orientiert. Dem muss der Grundbesitzer aber nicht direkt zustimmen und kann versuchen zu verhandeln. Sind sich beide Parteien einig, geht es wie bei einem normalen Grundstücksverkauf weiter. Der Besitzer zieht zum vereinbarten Zeitpunkt aus, und der Bauherr, also zum Beispiel die Stadt, beginnt mit den Abrissarbeiten.
Kann man sich gegen eine drohende Enteignung wehren?
Werden sich die beiden Parteien nicht einig oder die Eigentümer wollen schlicht nicht verkaufen, bleibt nur der Weg über eine Klage. Für große Vorhaben, bei denen eine Enteignung droht, gibt es aber sowieso immer erst einmal ein sogenanntes Planfeststellungsverfahren. In diesem Verfahren haben Betroffene die Möglichkeit, die Baupläne vorab einzusehen und sich dazu zu äußern. Im Verfahren wird unter anderem festgestellt, ob der Bauplan umsetzbar und das Vorhaben den Anwohnern zumutbar ist. Deswegen können Bürger, die für das Bauvorhaben ihr Grundstück abtreten sollen, genauso wie andere Anwohner dann alles auf den Tisch bringen: von der bedrohten Fledermausart, die dort vielleicht lebt, bis zum entstehenden Lärm für Anwohner oder mögliche Emissionen. Das Planfeststellungsverfahren kann von einigen Monaten bis zu einigen Jahren dauern. Am Ende steht, wenn die Verwaltung das Vorhaben für zulässig befindet, ein Planfeststellungsbeschluss. Der kann wiederum mit einer Klage angefochten werden. Weist das Gericht die Klage ab, weil alle Faktoren bereits berücksichtigt wurden und es keine Alternativen gibt, steht es schlecht für die Eigentümer. Aber egal wie das Gericht entscheidet – eine Entschädigung erhalten sie immer.
Warum sind Enteignungen überhaupt erlaubt?
Weil das Allgemeinwohl über dem Recht auf Eigentum steht. Im Fall einer neuen Bahnverbindung müssten zum Beispiel viele Menschen auf eine deutlich schnellere Verbindung verzichten, wenn ein einziger Grundbesitzer sein Haus nicht verkaufen will und es wirklich keine andere Möglichkeit gibt, die Schienen zu verlegen. Das wäre verfassungswidrig.
Wurde in Deutschland viel enteignet?
Das Grundgesetz hat dazu beigetragen, dass zumindest in der Bundesrepublik Deutschland Enteignungen eher selten vorkamen. In der ehemaligen DDR hingegen fanden im Jahr 1953 Massenenteignungen statt. Unter dem Namen „Aktion Rose“ enteignete die SED zahlreiche Hoteliers und Gastwirte an der Ostseeküste – laut SED-Unterlagen, um „Brutstätten des Imperialismus“ zu zerschlagen. In den alten Bundesländern liegt die letzte Enteignungswelle länger zurück, nämlich in der Zeit des Deutschen Reiches unter NS-Herrschaft: Schon vor dem Novemberpogrom 1938 enteigneten die Nationalsozialisten viele jüdische Bürger, Händler, Grundstücks- und Immobilienbesitzer. Einige Großunternehmer wurden sogar per Haft zum Verkauf ihrer Firma gezwungen. Wanderten Juden zu dieser Zeit aus oder flüchteten in ein anderes Land, mussten sie ebenfalls ihr Vermögen abgeben. Aber Enteignungen im kleineren Stil sind immer noch üblich. Laut dem Berliner „Tagesspiegel“ gab es zwischen 2009 und Mitte 2020 1.647 Enteignungsverfahren, um Autobahnen und Bundesstraßen zu bauen. 448 seien in dem Zeitraum abgeschlossen worden.
Was will die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“?
Obwohl der Name es anders vermuten lässt, geht es bei der Berliner Initiative, über die die Berlinerinnen und Berliner am 26. September abstimmen können, nicht um eine Enteignung, sondern juristisch gesehen um eine sogenannte Vergesellschaftung. Anders als beim Enteignen muss bei einer Vergesellschaftung ein komplettes Unternehmen neu ausgerichtet werden und fortan gemeinwohlorientiert, also nicht gewinnmaximierend, arbeiten. Die Initiative fordert den Berliner Senat per Volksentscheid dazu auf, „alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien in Gemeineigentum erforderlich sind“. Darunter fallen unter anderem die Vergesellschaftung der Bestände aller privaten Wohnungsunternehmen mit über 3.000 Wohnungen im Land, eine nicht profitorientierte Verwaltung der Wohnungen und ein Verbot der Reprivatisierung dieser Wohnungen. Die Hoffnung der Unterstützenden ist, dass es so weniger Mietspekulationen auf dem Berliner Wohnungsmarkt gibt und dadurch dauerhaft bezahlbare Mieten.
Wie funktioniert das mit dem Volksentscheid?
Damit es überhaupt zu einem Volksentscheid kommt, muss vorher ein Volksbegehren erfolgreich sein, was der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ Ende Juni gelungen ist. Für den Erfolg des Volksentscheids genügt nun eine Mehrheit an „Ja“-Stimmen, wobei mindestens 25 Prozent der Stimmberechtigten zugestimmt haben müssen (in diesem Fall etwa 613.000 Personen).
Wie sind die Erfolgschancen der Initiative?
Die Initiative hat laut Rechtsexperten keine große Aussicht auf Erfolg. Zum einen müsste das Land voraussichtlich Milliarden Euro als Entschädigung zahlen. Zum anderen verbietet die Berliner Landesverfassung Vergesellschaftung – und über diesen Passus haben die Berliner Bürger sogar selbst im Jahr 1995 per Volksabstimmung abgestimmt. Zu groß war damals die Sorge, Ähnliches wie in der DDR zu erleben. Und: Selbst wenn die Berliner für die Vergesellschaftung stimmen, ist der Senat nicht an die Entscheidung gebunden, sondern hat lediglich den Auftrag erhalten, sich damit zu befassen. Wie es wirklich ausgeht, zeigt sich vielleicht schon Ende dieses Jahres.
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