Schiffe voller Flüchtlinge fahren im Mittelmeer von Hafen zu Hafen, nirgends dürfen sie anlegen – einen Moment lang schien es Ende Juni dieses Jahres, als könnte ein solches Szenario Realität werden. Nachdem innerhalb weniger Tage mehr als 10.000 Geflüchtete in Italien an Land gegangen waren, hatte die italienische Regierung gedroht, die Häfen des Landes für Schiffe, die im Mittelmeer Flüchtlinge aufnehmen, zu schließen. Und auch die Regierungschefs von Frankreich und Spanien stellten sogleich klar: In keinem Fall würde man in die Häfen ihrer Länder Schiffe mit Flüchtlingen hereinlassen, die in Italien abgewiesen wurden.
Seine Drohung hat Italien dann nicht wahrgemacht – das Szenario herumirrender Rettungsschiffe ist vorerst nicht Wirklichkeit geworden. Allerdings sollen gemäß eines europäischen Masterplans – der Operation Sophia – demnächst ohnehin kaum noch Flüchtlinge übers Mittelmeer kommen: Die Seegrenze zu Libyen als letzte Lücke in der europäischen Außengrenze soll demnach bald geschlossen werden und libysche Küstenwächter sollen Flüchtlinge in Seenot künftig im südlichen Mittelmeer aufgreifen und zurück nach Afrika bringen. Schon seit gut einem Jahr bilden europäische Marinesoldaten die Libyer dafür aus.
Wie viele Menschen kommen gerade nach Europa?
Dass es derzeit wieder zu einem Anstieg der Flüchtlingszahlen in diesem Teil des Mittelmeeres kommt, hat vermutlich auch damit zu tun, dass die Zahl der Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Europa gelangen, stark eingedämmt worden ist: Seit im vergangenem März der sogenannte Flüchtlingsdeal mit der Türkei in Kraft trat und die türkische Marine begann, rigoros die Seegrenze zu Griechenland zu bewachen, schaffen es dort deutlich weniger Menschen nach Europa. In der ersten Jahreshälfte 2017 kamen nur 10.000 in Griechenland an.
Weil gleichzeitig keine legalen Wege nach Europa geschaffen werden, hat eine solche Abschottung einen hässlichen Nebeneffekt: Es sterben mehr Menschen auf dem Weg zu uns. Denn sie wählen abgelegenere und gefährlichere Routen – vor allem die von Libyen über das Mittelmeer nach Europa, die wesentlich weiter und riskanter ist als der Weg über die Ägäis. Im letzten Jahr machten sich insgesamt 181.000 Flüchtlinge aus Libyen nach Europa auf, in diesem Jahr waren es bis Ende Juli schon mehr als 90.000 – und die Hochsaison hat gerade erst begonnen. Seit dem Türkei-Deal sind auf dieser Route so viele Menschen gestorben bzw. werden vermisst wie noch nie: im vergangenen Jahr mehr als 5000, bis Mitte Juli 2017 schon 2174. Doch die Grenzschließung scheint im Sinne der Abschottung auch zu funktionieren: Insgesamt kamen in diesem Jahr bisher wesentlich weniger Menschen an. Im gesamten europäischen Mittelmeerraum wurden 110.000 Flüchtlinge registriert – und nur halb so viele in Europa – wie in den ersten sechs Monaten des Vorjahres.
Dürfen die Menschen, die es nach Europa schaffen, bleiben?
Weit weniger als die Hälfte der Geflüchteten, die Italien erreichen, dürfen dort bleiben. Von denen, die wieder gehen müssen, wurde bisher jeder zweite tatsächlich abgeschoben. Die anderen verschwinden im Untergrund. Geschätzt eine halbe Million Menschen ohne Papiere leben derzeit in Italien. Das soll sich ändern: Italien errichtet gerade 18 Abschiebezentren mit je tausend Plätzen, aus denen keiner mehr entkommen soll. Nur in Spanien werden bisher Ausreisepflichtige vorübergehend in Zentren festgehalten.
Die meisten der 10.000 Flüchtlinge, die es trotz aller Kontrollen von der Türkei nach Griechenland geschafft haben, stammen aus Syrien und dem Irak. Sie erhalten gemeinhin einen Schutzstatus. Auch in Griechenland tauchen viele Flüchtlinge nach der Ankunft unter.
Bleiben die Ankommenden in Italien und Griechenland?
Seit vergangenem Sommer beantragen immer mehr Geflüchtete in Italien und Griechenland Asyl. Zum einen werden diese Menschen bei der Ankunft konsequenter erfasst; zum anderen ist es für sie schwierig geworden, sich in Europa zu bewegen: Von Griechenland nach Nordeuropa ist der Weg dicht: An der griechisch-mazedonischen Grenze steht ein Zaun, ebenso an der ungarisch-serbischen, der ungarisch-kroatischen und der slowenisch-kroatischen Grenze. Auch aus Italien ist es nicht leicht weiterzureisen: An den Grenzen zu Frankreich und Österreich wird vorübergehend wieder kontrolliert, zur Schweiz sowieso.
Es gibt einen offiziellen Weg von Griechenland und Italien nach Norden. Im September 2015 haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vereinbart, dass die Neuankömmlinge verteilt werden. Das funktioniert allerdings nicht so gut. Die anderen EU-Länder haben in fast zwei Jahren insgesamt gerade einmal 24.000 Asylbewerber aufgenommen. Deutschland war dabei noch am eifrigsten, hierher kamen bisher 3000 Menschen aus Italien und fast 4000 aus Griechenland – ein Viertel der Anzahl, die abgemacht worden war.
Viele Flüchtlinge, die zu Verwandten in Nordeuropa wollen, ziehen auf eigene Faust los. Sie vertrauen sich entweder Schleppern an oder wählen abgelegene Wege, um die Grenzkontrollen zu umgehen. Das ist auch in Europa gefährlich. Ein Pakistaner erfror im Winter in den serbischen Bergen. Ein Junge aus Afghanistan ertrank, als er versuchte, den zugefrorenen Grenzfluss zwischen Serbien und Ungarn zu überqueren, und das Eis brach. Zwei Männer wurden nachts auf dem Weg nach Frankreich von Zügen überfahren, ein weiterer von einem Auto. Ein Sudanese stürzte von einer Klippe. Ein Mann aus Mali starb durch einen Stromschlag, als er versuchte, auf einem Zugdach in die Schweiz zu kommen. Insgesamt starben allein in diesem Jahr laut Angaben des UN-Flüchtlingswerks 26 Menschen bei Grenzübertritten innerhalb von Europa.
Und wer schafft es noch nach Deutschland?
Bis Juni dieses Jahres haben rund 100.000 Menschen das erste Mal einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Über das europäische Umverteilungsprogramm kommen aktuell etwa tausend Geflüchtete pro Monat aus Italien und Griechenland nach Deutschland. Die übrigen sind eigenständig hierher gelangt.
Etwa 23.000 der Flüchtlinge sind Minderjährige, von denen 3400 alleine unterwegs waren. Jeder fünfte Geflüchtete sagt, er sei aus Syrien, jeder zehnte aus Afghanistan oder dem Irak. Weniger als die Hälfte der Asylsuchenden darf derzeit in Deutschland bleiben.
Titelbild: Jörg Brüggemann/OSTKREUZ