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Nachbeben

Vor zwei Jahren verwüstete ein Erdbeben den Südosten der Türkei. Die Folgen sind noch zu sehen: an Häusern, hoher Inflation, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit. Wie schöpfen junge Menschen dort Hoffnung?

Menschen laufen auf einer Strasse zwischen zerstörten Häusern in Hatay

Weite Teile der Region Hatay sehen noch aus, als wäre das Erdbeben erst zwei Wochen her. Der Schutt zerstörter Häuser, an den Rändern der Städte Containersiedlungen und Notunterkünfte. Nur vereinzelt sind Imbisse geöffnet, mit Beginn der Dämmerung sind die Straßen leer.

Nachdem am 6. Februar 2023 zwei Erdbeben die Region erschütterten, ist der Ausnahmezustand hier Alltag geworden. 14 Millionen Menschen waren davon im Süden und Südosten der Türkei und in Nordwestsyrien betroffen. 53.537 Menschen kamen laut offiziellen Angaben ums Leben. Unabhängige Organisationen gehen von höheren Opferzahlen aus. 850.000 Kinder verloren ihr Zuhause, eine Studie mit rund 250 Kindern aus Hatay weist auf ein sehr hohes Risiko für posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und Angststörungen hin. Hatay, nahe der syrischen Grenze, traf es besonders stark – fast 65 Prozent der Gebäude wurden zerstört.

Zwei Jahre nach der Katastrophe klagen Betroffene im Gespräch noch immer über die teilweise mangelnde Versorgung mit sauberem Wasser, sanitären Anlagen und medizinischer Hilfe. 

Die Unis bleiben geschlossen, viele jungen Menschen sind arbeitslos 

„Für junge Menschen gibt es kaum Grund zur Hoffnung“, sagt Eren Nerguz. Der 23-Jährige sitzt auf einer Terrasse im Zentrum Antakyas, einer Stadt in der Provinz Hatay. Kurz vor dem Erdbeben hatte er sein Studium begonnen, war von zu Hause ausgezogen und wollte Journalist werden. Dieser Traum – dahin, wie viele Pläne junger Menschen. Nach dem Erdbeben waren Eren und seine Familie monatelang obdachlos, sein Vater verlor seinen Job, sie schliefen im Auto und mussten schließlich zurück ins beschädigte Familienhaus ziehen. „Auch wenn uns die Risse in den Wänden Angst machen“, sagt er.

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Eren Nerguz auf der Terrasse eines Cafes (Foto: Simone Kamhuber)
Abwarten und Tee trinken, mehr bleibt Eren momentan nicht übrig (Foto: Simone Kamhuber)

Erens Fakultätsgebäude wurde bei dem Erdbeben stark beschädigt und der Unterricht noch nicht wieder aufgenommen. 13 Prozent der 15- bis 29-Jährigen in der Provinz sind arbeitslos. „Viele Jugendliche vertreiben sich den ganzen Tag in Teehäusern mit Kartenspielen“, sagt Eren. Immer mehr vertickten auch Drogen oder tränken viel Alkohol. Deswegen möchte er das unversehrte Gebäude hinter sich mit Freunden in ein Kulturzentrum verwandeln.

35 Kilometer von Antakya entfernt, in Samandağ, gibt es so etwas schon. Deniz Toprak, ein Ingenieur aus Istanbul, kam 2023 in die Region und gründete im Sommer nach dem Erdbeben das Hatay Surfcamp. „Die meisten Hilfsangebote richteten sich an Kinder oder Erwachsene, Jugendliche wurden oft übersehen“, erklärt Cemal Akar, einer der Mitgründer des Surfcamps.

Surfen hilft, um zu vergessen

Ein Shuttle holte die 15 Jugendlichen von zu Hause ab. An jenem Samstag im November bleiben die Neoprenanzüge jedoch an den Haken, die Wellen sind zu niedrig. In einer Jurte reden sie stattdessen über das Surfen, machen Yoga, schreiben Kurzgeschichten. Das Erdbeben klammern sie hier bewusst aus.

„Surfen ließ mich den Schmerz des Erdbebens vergessen“, sagt Haydar Esmer. Er ist 18 Jahre alt, drei Monate nach dem Erbeben stand er zum ersten Mal in seinem Leben auf einem Surfbrett. Weil sein Zuhause unversehrt blieb, beherbergte seine Familie zwischenzeitlich an die 100 obdachlos gewordene Menschen. „Da war so viel Leid um mich herum“, sagt er.


 

Bauarbeiter bereiten Steine in der historischen Altstadt von Hatay vor (Foto: Burak Kara/Getty Images)
Keine guten Aussichten: Die Luftaufnahme zeigt die von zerstörten Häusern in Hatay (Foto: Burak Kara/Getty Images)

Nur seinen Körper und die Wellen zu spüren, sei eine Zuflucht gewesen – und inzwischen sein Lebensinhalt. Nach sechs Monaten intensivem Training belegte er den ersten Platz bei der türkischen U18-Surfmeisterschaft und unterrichtet in Samandağ inzwischen selbst die jüngeren Surfcamp-Mitglieder. Später sollen die jungen Erwachsenen entlang der Küste im Surf-Tourismus arbeiten können und damit sich selbst eine Zukunft aufbauen.

Wie viele Menschen und welche Bevölkerungsgruppen die Region dauerhaft verlassen haben, ist nicht bekannt. Zahlreiche Menschen zogen in die Großstädte innerhalb der Türkei. Deutschland vereinfachte kurzzeitig den Visumsprozess, um Betroffenen die Möglichkeit zu geben, bei Verwandten hierzulande Zuflucht zu finden. Diese Initiative wurde nach einem halben Jahr jedoch aufgrund der rückläufigen Nachfrage wieder eingestellt.

Viele Menschen sind frustriert und enttäuscht von der Politik 

Neben der Trauer wuchs bei vielen Menschen nach dem Erdbeben vor allem die Wut. Die Türkei und ihre Nachbarländer wie Syrien sind immer wieder von Erdbeben betroffen, in der Region treffen mehrere Kontinentalplatten aufeinander. Ein Großteil der türkischen Bevölkerung lebt mit einem permanenten Erdbebenrisiko. „Mörder“, skandierten Demonstrierende am Jahrestag 2024 in Antakya. Sie forderten den Rücktritt von Lütfü Savaş, dem damaligen Provinzbürgermeister der Oppositionspartei CHP. Ebenso richtete sich ihre Wut gegen die Zentralregierung, die nach dem Erdbeben aus ihrer Sicht zu spät Hilfe nach Hatay geschickt hatte. Darüber hinaus legalisierte Präsident Recep Tayyip Erdoğan nachträglich illegal errichtete Schwarzbauten.

Doch sowohl die Prozesse gegen die Bauunternehmer als auch der Wiederaufbau verlaufen viel langsamer als erhofft. Als Erdoğan ein Jahr nach der Katastrophe das Erdbebengebiet besuchte, ließ er sich vor Neubauten fotografieren. Dabei war erst ein Bruchteil der unbewohnbaren Häuser wiederaufgebaut. Bei den Kommunalwahlen 2024 feierte die CHP einen überraschenden Sieg. In der Provinz Hatay hingegen, die traditionell von der CHP regiert wurde, gewann Mehmet Öntürk von der Regierungspartei AKP die Bürgermeisterwahl. Aus der Opposition wurde zunehmend Kritik an den hohen Zustimmungswerten für die AKP in Teilen des Erdbebengebietes laut – jener Partei, deren schlechtes Krisenmanagement die Menschen in der Region beklagten.

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Haydar Esmer surft auf dem Meer (Foto: privat)
Surfen gegen Kummer: Haydar Esmer hat drei Monate nach dem Erdbeben Surfen gelernt (Foto: privat)

Ein paar Kilometer vom Surfcamp entfernt liegt eines der provisorischen Dörfer: 120 weiße Container, vom türkischen Katastrophenschutz AFAD bereitgestellt. Einzelne Bewohnerinnen und Bewohner recken die Köpfe aus den Türen. Eine 20-jährige Frau winkt bei der Frage nach den politischen Einstellungen der Jugend ab: „Wir haben kein Dach über dem Kopf, fast jeder hat jemanden verloren“, erklärt sie und möchte dabei anonym bleiben. „Parteipolitik ist unser geringstes Problem.“ Viele wollten nach jahrelanger Amtszeit von Lütfü Savaş als Bürgermeister einfach eine Veränderung, unabhängig davon, wer sie bringt.

Diese lässt allerdings auf sich warten. Eren Nerguz’ Familie ist mittlerweile wieder in ihr Zuhause zurückgezogen, obwohl sich Risse durch die Wände ziehen. Die Angst sitzt nach wie vor tief. „Viele rennen immer noch panisch aus ihren Häusern, wenn es donnert oder ein lautes Fahrzeug vorbeifährt“, erzählt Eren. Auch im Surfcamp beschreibt der Mitgründer Cemal Akar, dass die Sorgen der Kinder in ihren Gesichtern und ihrer Haltung erkennbar sind. Doch das Surfprojekt ist auch ein Hoffnungsschimmer für junge Menschen, nach vorne zu blicken und Chancen zu ergreifen – und sei es auch nur ein Surfbrett.

Titelbild: Burak Kara/Getty Images

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.