Im November 1985 schloss ich eine ungewöhnliche Freundschaft. Ich war damals 14 Jahre alt und trat der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) bei. Mit rund sechs Millionen Mitgliedern war sie die zweitgrößte Massenorganisation in der DDR. Das blaue Heftchen, das mir zu Beginn überreicht wurde, besitze ich noch heute. Im Gegensatz zu den Mitgliedsheften der Jungen Pioniere oder des Deutschen Turn- und Sportbunds habe ich es nach dem Mauerfall nicht weggeworfen. Vielleicht ist das Zufall. Vielleicht aber habe ich es in dem Moment, als so vieles seinen Wert verlor, was in der DDR noch eine Bedeutung hatte, auch deshalb aufbewahrt, weil es für mich beides war: das Symbol einer staatlich verordneten Freundschaft und das Zeugnis einer widersprüchlichen Beziehung, die ich wie viele Menschen in der DDR zur Sowjetunion hatte. Bis heute prägt diese Erfahrung meinen Blick auf Russland.
In der DDR wurde Freundschaft mitunter staatlich verordnet: Ihr Freundschaftsheftchen von damals hat unsere Autorin noch (Foto: privat)
Das Heftchen ist voller kleiner 10-Pfennig-Marken, das war Monat für Monat der Mitgliedsbeitrag. Ich habe sie wahrscheinlich in der Hoffnung eingeklebt, dass mich jede einzelne von ihnen den Freunden – so sagte man in der DDR zu den Menschen in der Sowjetunion – ein Stück näherbringen würde. Ein Kinderglaube. Denn in Wirklichkeit geschah nichts dergleichen. Das Land und die Menschen, mit denen ich offiziell befreundet war, blieben mir fern.
Freundschaftsstatus: Es ist kompliziert
Als meine Freundschaft mit der Sowjetunion Mitte der 1980er-Jahre offiziell begann, kühlte die Freundschaft zwischen den beiden Staaten ab. Mit der beginnenden Entspannungspolitik von Perestroika und Glasnost unter dem neuen Generalsekretär Michail Gorbatschow wollte die DDR-Führung nichts zu tun haben. Reisen in die Sowjetunion waren für die meisten DDR-Bürger nur als organisierte Gruppenreisen möglich. Dazu kam die Katastrophe von Tschernobyl 1986, über die in den DDR-Medien kaum berichtet wurde, an der die Bevölkerung aber großen Anteil nahm. Und als im Jahr 1988 die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR verboten wurde, war das für viele ein Zeichen, dass die offizielle Freundschaft mit der Sowjetunion einen deutlichen Riss bekommen hatte. Nun traten selbst Leute in die DSF ein, die früher unter keinen Umständen Mitglieder geworden wären. Sie wollten ein Zeichen setzen, dass sie den von Gorbatschow eingeschlagenen Reformkurs für richtig hielten.
Im Alltag war das Bild „unserer Freunde“ auch vorher schon von Rissen durchzogen. Zu sehr widersprach die durchweg positive Erzählung vom Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg den persönlichen Erlebnissen unserer Eltern- und Großelterngeneration. Die fröhlichen Gesichter von Irina und Boris in meinem Russischlehrbuch hatten nichts gemein mit den traurigen Augen der jungen Soldaten hinter den Gittern der russischen Kaserne, an der ich als Kind oft vorbeilief. Kaum älter als ich, steckten sie in viel zu großen, starren Uniformen. Dennoch gehörten sie einer Armee an, die einst, im Januar 1945, Auschwitz befreit hatte. Wir lasen Bücher wie „Ein Menschenschicksal“ von Michail Scholochow und „Djamila“ von Tschingis Aitmatow und konnten uns doch kein rechtes Bild machen, wie die Menschen in Russland wirklich lebten.
„Mir fehlten die Worte, um die verordnete Freundschaft in echte Freundschaft zu verwandeln“
Niemand in meiner Familie oder im näheren Bekanntenkreis in der DDR hatte Kontakt zu Russen. Und auch ich begegnete ihnen erst, nachdem ich schon lange keine Marken mehr ins Mitgliedsheft einklebte. In den 1990er-Jahren sprach mich auf der Straße plötzlich jemand in der Sprache an, die ich seit der fünften Klasse in der Schule gelernt hatte. Aber meine russischen Vokabeln passten nicht in die neue Wirklichkeit in dem Land, das es inzwischen nicht mehr gab. So wie sie vielleicht nie ins echte Leben gepasst hatten. Mir fehlten die Worte, um die verordnete Freundschaft in eine echte Freundschaft zu verwandeln.
Wenn ich heute auf der Straße die russische Sprache höre oder Nachrichten aus Russland verfolge, eröffnet sich für mich, wie für viele andere Ostdeutsche auch, ein Erinnerungsraum widersprüchlicher Erfahrungen. Darüber zu sprechen fällt manchmal schwer. Denn allzu oft wird aus jener alten, vielschichtigen Freundschaft eine neue abgeleitet: eine Putin-Freundschaft. Wie unzulässig diese Vereinfachung ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass niemandem, der in Westdeutschland sozialisiert wurde und von Amerika schwärmt, Sympathien für Donald Trump unterstellt werden. Ostdeutsche haben ein anderes Verhältnis zu Russland als Westdeutsche.
Ein bisschen lässt sich meine Freundschaft zu Russland mit den russischen Matrjoschkas vergleichen, die in fast jeder DDR-Schrankwand standen: Öffnet man eine Puppe, kommt die nächste zum Vorschein.
Titelbild: akg-images/picture-alliance/ZB/Wilfried Glienke