Thema – Generationen

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Kommt Zeit, kommt Tat

Wer anderen hilft, kann sich die Zeit in einer Bank gutschreiben lassen – und im Alter wieder abheben. Passt das Konzept aus Japan auch nach Deutschland?

Foto: Lee Chapman

Zeit ist kostbar. Aber sie aufbewahren, sie ansparen, wenn man sie gerade nicht braucht, für später, wenn man sie nötiger hat – das können wir nicht. Oder? Das japanische „Fureai Kippu“ verspricht genau das: Wer andere betreut oder pflegt, bekommt den Zeitumfang seiner geleisteten Hilfe gutgeschrieben – und kann sein Guthaben später wieder in eine Betreuungsleistung zurücktauschen. Das Fureai Kippu, im Deutschen etwas sperrig mit „Bezugsschein für Pflege und Zuwendung“ übersetzt, verspricht eine Art Zeitsparbuch.

Die Idee kommt nicht zufällig aus Japan – einem der ältesten Länder der Welt

Die Idee ist innovativ, aber alles andere als neu: Die erste Zeitbank der Welt, die Volunteer Labour Bank, gründete Teruko Mizushima bereits 1973 in Japan. Das Land erlebte schon damals eine Bevölkerungsalterung wie im Zeitraffer: War 1970 noch jeder 14. Japaner über 65 Jahre alt, war es Mitte der 90er Jahre bereits jeder siebte. Weil das Pflegesystem mit dieser Alterung zunehmend überfordert war, entstanden private Freiwilligeninitiativen.

Außerdem spielt gegenseitige Hilfe eine große Rolle in der japanischen Kultur, in der einem Gefallen bestenfalls mit einem Gefallen geantwortet werden soll. Das Problem: Wer als hilfsbedürftige Person fremde Hilfe annimmt, läuft Gefahr, die „offene Rechnung“ aus Altersgründen schlichtweg nicht begleichen zu können. Die Lösung: Zeitbanken.

Rentner in einem Imbiss in Tokio

Alles bleibt beim Alten: Auffällig viele Japaner über 60 bleiben fest im Arbeitsleben. In seiner Serie „The Old“ zeigt der Fotograf Lee Chapman die Belastungen, denen die Senioren ausgesetzt sind – aber auch ihren unermüdlichen Antrieb weiterzumachen

So hat sich Fureai Kippu in Japan etabliert. Über drei Millionen Mitglieder zählten die 95 Organisationen bei der letzten offiziellen Erhebung im Jahr 2012. Und der Bedarf wird nicht kleiner: Heute ist über ein Viertel der japanischen Bevölkerung älter als 65.

Doch so logisch das Prinzip einer Pflegewährung zunächst erscheinen mag: Fureai Kippu ist keine umfassende Antwort auf die kulturellen wie demografischen Herausforderungen, denen nicht nur Japan gegenübersteht. Denn eines können Zeitbanken nur bedingt: Vertrauen schaffen. Im Laufe der Zeit wuchsen die Bedenken, ob die angesparte Zeit auch wirklich zukunftssicher ist.

Bei jeder Währung spielt Vertrauen eine Rolle – auch beim Zeitsparen

Viele Organisationen haben daraufhin begonnen, Zeitguthaben bei Nachfrage auch in Geld zu tauschen – was die ursprüngliche Idee konterkariert. Laut Tsutomu Hotta, der das System als japanischer Justizminister vorangebracht hatte, kann und soll Fureai Kippu weder gesetzliches Zahlungsmittel noch Instrument zur Reichtumsmehrung sein. Hotta verglich das Verhältnis vielmehr mit dem zwischen Eltern und Kind, deren gegenseitige Unterstützung bekanntlich auf Urvertrauen, nicht auf Geld basiert.

Solches Vertrauen spielt in jeder Währung eine Rolle. Der sogenannte „Generationenvertrag“, über den in Deutschland die gesetzliche Rente geregelt ist, lebt vom Vertrauen, dass es später genug junge Menschen gibt, die für die Alten in die Rentenkasse einzahlen. Auch unser Geldsystem basiert auf dem Vertrauen darin, dass mein Gegenüber – ob Bank oder Privatperson – mir den Währungswert in Waren oder Dienstleistungen erstattet.

In dieser Hinsicht sind sich Zeitbank und traditionelle Geldwirtschaft also ähnlich. „Auch in einer Zeitbank geht es darum, dass Beziehungen aufgebaut werden und dass Menschen nicht vereinsamen, sondern fest eingebunden sind in das Netzwerk“, sagt Ingrid Engelhart, Geschäftsführerin des SPES Zukunftsmodelle e.V. (Studiengesellschaft für Projekte zur Erneuerung der Strukturen).

Über den SPES sind bis heute 16 deutsche Zeitbanken gegründet worden. Sie zählen zwischen 20 und 130 Mitglieder. „Wenn wir unser Konzept vorstellen, steht die Frage nach den Garantien immer ganz weit oben“, sagt Engelhart. „Im tatsächlichen Betrieb rückt das allerdings in den Hintergrund, bis es schließlich fast immer um das Bedürfnis zu helfen geht, um gegenseitige Wertschätzung, den Sinn und den Spaß an der Gemeinschaft.“ Ziel sei es, die Stunden nicht für später aufzusparen, sondern früh das gegenseitige Geben und Nehmen einzuüben.

Alte Frau in einer Garage in Tokio

Trübe Aussicht: Laut Prognosen soll bis 2050 ein Drittel der japanischen Bevölkerung über 65 sein – ein Rekord innerhalb der 36 OECD-Mitgliedstaaten

Klingt einfacher als es ist. Gerade ältere Menschen, die im Lauf ihres Lebens vielleicht oft auf sich allein gestellt waren, bitten nicht selbstverständlich um Hilfe. „Die Hemmschwelle sinkt aber zunehmend“, beobachtet Engelhart. „Und die Sharing-Generation hat weit weniger Scheu, anderen mit ihren Hilfegesuchen zur Last zu fallen.“

Der Geist der Sharing-Economy 

Mit diesem Zeitgeist arbeiten Bernhard Koller und Christian Ebert. Sie haben im März 2019 „Zwopr“ gegründet, eine „Plattform für ein neues Miteinander“. Mit diesem Slogan klingt Zwopr eher nach Nachbarschaftshilfe als nach Zeitbank. „Danach trennen wir nicht“, sagt Koller. „Du kannst bei uns einen maximalen Radius von 100 Kilometern definieren, das ist schon weit mehr als Nachbarschaft.“

Zwopr wolle vielmehr die Bedürfnisse seiner Nutzer bedienen und Zeitkonten dabei spielerisch einsetzen. „Wer einen langen Urlaub plant und seine Blumen gegossen haben möchte, der spart vielleicht ein Dutzend Stunden an“, so Ebert. „Aber wir wollen vor allem das Bewusstsein und die organisatorische Möglichkeit bieten, die Gesellschaft in einen Flow zu bringen“, sagt Koller. Nach dem Flow suchen derzeit rund 2.800 Nutzer, zwischen 25 und 45 Jahre alt, vor allem aus dem Raum München. Den Anspruch, anderen ein Zeitpolster fürs Alter einzurichten, haben Koller und Ebert nicht.

Alte Frau bedient in einem Imbiss in Tokio

Muss hinter der Theke stehen, statt im Gastraum Platz zu nehmen: Diese Dame arbeitet wie Millionen anderer Japaner*Innen im hohen Alter weiter. Da vielen ihre Pension nicht reicht und die Unternehmen Schwierigkeiten haben, Jobs neu zu besetzen, erhöhten kürzlich einige Arbeitgeber das Renteneintrittsalter

Zwischen Community-Hippness, lokalem Engagement und einem über Jahrzehnte aus demografischer Not gewachsenen System: Die Idee der Zeitbank fällt in immer mehr Ländern auf fruchtbaren Boden; in Japan wie in der Schweiz, in England, den USA, Österreich, Norwegen, Neuseeland oder eben Deutschland. In allen muss das Sparen und Ausgeben der Währung Zeit erst eingeübt werden: Wir gehen mit unterschiedlichen Währungen unterschiedlich um, Bonuspunkte sitzen lockerer als Bargeld.

 

Eine Art Einlagensicherung, die garantiert, dass investierte Zeit auch übermorgen noch an der Zeitbank eingetauscht werden kann, ist nur schwer zu institutionalisieren. Vielleicht braucht es sie auch gar nicht. Für eine Studie gaben 2017 die meisten Zeitsparer in Japan gar nicht das Sparen als Motivation für ihr Invest an, sondern das „Beziehungen knüpfen“. Zeit mag kostbar sein, sie lässt sich aber eben auch gut teilen.

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