Kommt die Rede auf das Gesetz, gerät der Kommissar mit dem Tarnnamen Dirk B. schnell in Rage. Schmarrn. Pfusch. Blanker Unsinn. Und das sind noch die druckbarsten Worte des erfahrenen Polizisten, der seinen Namen nicht in den Medien lesen will. Er ist Beamter, offiziell muss er alles, was von oben kommt, okay finden. Inoffiziell sagt er: „So was können sich nur Politiker ausdenken, die noch nie im Puff waren.“ Er selbst war schon oft im Puff. Denn Dirk B. ist in Hamburg-St. Pauli täglich auf Streife. Er kennt die Geschichten. Von Vanessa aus Frankfurt, die mit 17 einem 20 Jahre Älteren verfiel, der sie auf den Strich schickt. Von Elena aus Bukarest, die dem Ruf ihres Cousins folgte und hoffte, in Deutschland das große Geld zu machen. Von Emeka aus Lagos, die daheim von einem Voodoo-Priester verhext wurde. Er kennt die Mädchen. Aber er kann ihnen kaum helfen. Darum regt er sich so auf.
Vor gut zehn Jahren trat in Deutschland das „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“ (kurz: ProstG) in Kraft. In drei knappen Paragrafen wurde anschaffenden Frauen die Chance eingeräumt, Arbeitsverträge zu schließen, Löhne einzuklagen, an der Sozialversicherung teilzuhaben. Prostitution und Zuhälterei waren mit einem Mal nicht mehr unsittlich. Statt geächtet und entrechtet sollten Prostituierte berechtigt und eingemeindet sein. Sprich: besser geschützt vor Ausbeutung, Altersarmut, Gewalt, Menschenhandel. Auf dem Papier klang das gut. Mutig. Fortschrittlich. Experten waren größtenteils dafür, denn vorher war die Prostitution jahrzehntelang ein rechtlicher Graubereich – eigentlich als sittenwidrig eingestuft, aber doch oft geduldet.
50 Euro nehmen viele Berliner Prostituierte für eine halbe Stunde. Die Annonce für ihre Dienste in der Boulevardzeitung kostet sie ca. 70 Euro
Das Problem ist nur: Solange die Prostitution noch nicht offiziell erlaubt war, konnte die Polizei jederzeit in ein Bordell marschieren, um es zu schließen. Heute benötigen die Fahnder einen ordentlichen Durchsuchungsbefehl, wenn sie zum Beispiel eine Wohnung kontrollieren wollen, in der sie Zwangsprostitution vermuten – doch für diesen Befehl braucht man Zeugen, und die sind im Milieu kaum zu kriegen. So moniert denn auch mancher Polizist, dass die Schutzbefohlenen noch schutzloser als zuvor seien. Rund 400.000 Menschen arbeiten laut Schätzungen bundesweit als „Sex-Arbeiterinnen“, mehr als 90 Prozent davon sind Frauen. Wie viele von ihnen unter Zwang stehen, weiß niemand – nicht mal annähernd –, zumal die Grenzen schwer zu ziehen sind. Keine Prostituierte sei frei, sagt etwa die Berliner Streetworkerin Angelika Müller. „Keine Frau kommt reich und ungebrochen aus dieser Zeit heraus“, pflichtet ihr die Stuttgarter Sozialarbeiterin Sabine Constabel bei. Soll heißen: Wer fremde Männer in Serie in sich eindringen lässt, trägt immer auch seelische Verletzungen davon.
Nun ist Prostitution fast so alt wie die Menschheit, schon in babylonischen Tempeln boten Frauen sich feil, und Gesetzeshüter sind seit jeher relativ machtlos. Es ist ein Milieu, das nach eigenen Spielregeln funktioniert. Und in dem man anscheinend nicht so einfach Gesetze implementieren kann. Hat eine Prostituierte Probleme mit einem Freier, regelt das der Zuhälter und nicht das Amt. Hat sie wiederum Probleme mit dem Zuhälter, geht sie oft nicht zur Polizei. Hat sie ihren Tageslohn beisammen, kriegt der Zuhälter seinen Anteil, aber meistens nicht das Finanzamt. Das sei die Norm, sagt der Polizist Dirk B. Das ProstG könne gebildeten, unerschrockenen, unabhängigen Frauen helfen. Sex-Unternehmerinnen sozusagen. Doch deren Zahl nehme ab – und sie sei eh schon verschwindend gering.
Der Anteil ausländischer Prostituierter dagegen steigt seit Langem stetig. Sabine Constabel schätzt ihn heute auf 80 Prozent. Für Zuhälter und Freier ein Segen, denn die Ausländerinnen drücken die Preise und bieten Sex auch ungeschützt, was wiederum den Druck auf die Etablierten erhöht, ebenfalls „alles ohne“ anzubieten. Die „Flatrate-Puffs“ – durch die Verurteilung zweier Zuhälter aus dem Raum Stuttgart jüngst in die Schlagzeilen geraten – wären mit ihren Tagestickets für 70 Euro und Slogans wie „Komm, so oft du willst“ ohne Frauen-Importe undenkbar.
Bis 14 Stunden täglich mussten rumänische Frauen mit Freiern in einem deutschen „Flatrate-Puff“ schlafen, dessen Besitzer zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden
Die meisten Neuankömmlinge sind inzwischen Roma-Mädchen aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Ohne Bildung, ohne Geld, oft mit Kindern daheim. „Viele kennen nicht mal die Wochentage auswendig“, sagt Dirk B. Irgendwer lotst sie nach Deutschland – mal eine „hochseriöse“ Model- Agentur, mal ein Bekannter der Familie. Und das alles seit der EU-Osterweiterung mit legalen Papieren. Einige Mädchen wissen, was sie erwartet, aber sie haben keine andere Hoffnung. In Deutschland beginnt ein Teufelskreislauf aus Drohung und Täuschung. Die Mittelsmänner wissen, was die Mädchen gefügig macht: Hohe Scheinschulden für Visa und Wohnung zum Beispiel, oder Drohungen, dass der Familie etwas zustößt. „Der rechtsfreie Raum ist seit 2002 größer geworden“, resümiert die Herforder Streetworkerin Mira von Mach.
Zwar hat die Polizei in den meisten Rotlichtvierteln inoffizielle Agreements mit Bordellbetreibern geschlossen, um den Zugang zu garantieren. Dennoch sei es für kriminelle Zuhälter leichter geworden, ihre Opfer zu verstecken, sagt Dirk B. In einer grundsätzlich legalisierten Branche ist es eben für die Polizei weit schwieriger, solche Verbrecher aufzuspüren – erst recht, wenn Gewerbekontrollen wegfallen. Eine aktuelle Studie im EU-Auftrag gelangt gar zu dem Ergebnis, dass Legalisierung generell zu mehr Menschenhandel führt. In Ländern, die Prostitution erlauben, sei der Markt ungleich größer als in Verbotsländern, die Zahl der Missbrauchsfälle dagegen konstant. In Dänemark etwa, wo Prostitution seit 1999 erlaubt ist, sei die Zahl der Huren heute drei- bis viermal so hoch wie in Schweden, wo im selben Jahr die Prostitution verboten wurde, argumentiert der Heidelberger Ökonomieprofessor Axel Dreher, einer der Autoren der Studie – und das, obwohl Schweden 40 Prozent mehr Einwohner hat.
1 Million Männer gehen schätzungsweise pro Tag in Deutschland zu einer Prostituierten
Manche Feministinnen fordern daher seit Langem, dem schwedischen Beispiel zu folgen und Prostitution als Mittel der Frauenunterdrückung zu verbieten. Sie lehnen es ab, über Arbeitsbedingungen zu diskutieren, da Prostitution per se unerträglich sei. Das Gros der Branchenkenner sieht es differenzierter. Netzwerke wie „Hydra“ oder „Amnesty for Women“ treten dafür ein, dem ProstG endlich Richtlinien folgen zu lassen. Hauptziel ist eine sogenannte Erlaubnispflicht mit speziellen Auflagen, wie sie bereits für Waffenhändler, Spielhallen oder Pfandleiher gilt. Auch Experten wie der Berliner Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra, die Soziologin Barbara Kavemann oder der Strafrechts-Professor Joachim Renzikowski sehen darin das effektivste Instrument. Arbeitsrechtliche und hygienische Standards könnten so kontrolliert werden, es gäbe klare Ansprechpartner und enge Kontakte zwischen Milieu und Behörden. Kurz: mehr Transparenz. Das „Dortmunder Modell“, bei dem sich Behörden und Streetworker im Konsens auf solche Regeln verständigt haben, gilt als vorbildlich.
Auch die Polizei ist dafür und bemüht sich seit Jahren darum, die Überwachung der Gewerbestandards zu übernehmen – für das BKA eine seltene Präventions-Chance gegen Menschenhandel unter erschwerten Bedingungen. Hurenverbände sind dagegen. Aber auf die Erlaubnispflicht können sich alle einigen – auch Politiker. Seit Mai 2011 plant das Bundesfamilienministerium, sie gesetzlich zu verankern. Derweil überlegen sich Schlepperbanden längst neue Handelswege – ungleich besser getarnt und auch mit Erlaubnispflicht kaum kontrollierbar. Der Branchentrend geht zum „Haus- und Hotelservice“. Auf Webseiten wie kaufmich.com oder modelle-hamburg.com verabreden sich Hure und Freier direkt per E-Mail. Die Profile klingen verlockend. Zum Beispiel „Petite Cherie, 21, sozial kompetente Abiturientin aus Frankreich, humorvoll, vielseitig interessiert, unvoreingenommen“. Sie trifft sich „nur im Hotel“, für 500 Euro pro Nacht. Ob es sich bei ihr in Wahrheit um Elena aus Bukarest handelt, 17, Analphabetin, sozial ausgebeutet und vielseitig missbraucht, wird die Polizei nie erfahren.