Hier liegt das Weißrussische begraben, und hier ist es wiederauferstanden: ein kleines Wäldchen am nordöstlichen Rand der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Man hört das Rauschen des Windes und der Autos auf dem nah gelegenen Autobahnring. Überall stehen Holzkreuze, kleine, große, am Rand eines Weges und im Wald zwischen den Bäumen, in denen noch der Morgennebel steht. Eine Granitbank erinnert an den Besuch des US-Präsidenten Bill Clinton im Jahr 1994. Ljawon Barschtscheuski, schmale Statur, Halbglatze, geht voran. Er ist einer der bekanntesten Intellektuellen seines Landes, der Republik Belarus, die einst zur Sowjetunion gehörte, seit 1991 unabhängig ist und seit 1994 von dem diktatorischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka regiert wird. Und der hat auch in Sachen Sprache das Sagen.

Barschtscheuski ist ein entschiedener Gegner Lukaschenkas, weil er ein Freund der Kultur ist, der Sprache. Er hat ein Wörterbuch verfasst und Dichter und Schriftsteller aus dem Deutschen ins Weißrussische übersetzt. Er war Vorsitzender der ältesten Oppositionspartei, der Belarussischen Volksfront (BNF), die Ende der 1980er Jahre in diesem Wäldchen, das man Kurapaty nennt, gegründet wurde – von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern, denen ihre eigene Sprache und Kultur am Herzen lag. Nach den Reformen Michail Gorbatschows forderten die Menschen in vielen Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit und damit auch das Recht, ihre Kultur und Sprache leben zu dürfen. Auch in der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) entstand damals eine Nationalbewegung, die es schaffte, der weißrussischen Sprache kurz vor ihrem Tod neues Leben einzuhauchen.

Viele verbinden mit der Sprache das frühere Unglück

Das Weißrussische ist kein russischer Dialekt, sondern wie das Ukrainische eine eigene ostslawische Sprache, die aber schon im 14. Jahrhundert unterdrückt wurde. Damals wurde Weissrussland Teil des Doppelstaates Polen-Litauen und blieb es bis Ende des 18. Jahrhunderts. Dann gelangte das Land unter russische Herrschaft und somit unter eine neue sprachliche Dominanz. In der Sowjetrepublik Belarus schließlich konnte man es nur noch in alten Büchern lesen und bei den Alten in den Dörfern hören. In der Hauptstadt Minsk sprach man nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Russisch. „Es war regelrecht verpönt, Weißrussisch zu sprechen“, sagt Barschtscheuski. „Es galt als Sprache der Dummen und der Bauern.“ Und es war politisch gefährlich, weil man als Nationalist galt, der es an Treue zur Sowjetunion mangeln lässt. Doch dann kam die Perestroika – gerade noch rechtzeitig, bevor das Weißrussische mit den letzten Sprechern aussterben konnte.

Aus dieser Zeit gibt es Schwarzweißfotos, auf denen man einen jungen, wütend agitierenden Barschtscheuski sieht – umringt von Hunderten Zuhörern. Hier in Kurapaty, diesem schrecklich-symbolischen Ort, an dem man 1988 Massengräber entdeckt hatte und darin Knochen von Frauen und Männern, Schädel mit Einschusslöchern am Hinterkopf, dazu Gürtel, Galoschen, Kämme – von Tausenden Menschen. Sie waren in dem Wäldchen 1938 von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD erschossen worden. Wie viele genau – das weiß bis heute niemand. Schätzungen gehen von bis zu 250.000 Menschen aus. „Das war unsere Elite, unsere Erinnerung, unsere Zukunft“, sagt Barschtscheuski. Stalin habe die weißrussische Elite ermorden lassen, weil er das Erstarken von Nationalbewegungen befürchtete. „Man hat ihnen die geistigen Führer genommen.“

So verschwanden die Intellektuellen des Landes und mit ihnen die Sprache unter der Erde von Kurapaty. Andere, die etwas mehr Glück hatten, wurden nach Sibirien deportiert. Die Überlebenden aber hatten Angst und schwiegen über die tragischen Ereignisse der Stalinschen Säuberungen – und bekamen nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue sowjetisch-russische Identität verordnet.

Die Mehrheit der Weißrussen ist bis heute ein Produkt dieser sowjetischen Russifizierungspolitik, und ihr aktueller Staatspräsident Lukaschenka ist es umso mehr, was sich auch bei der Sprache zeigt. Der weißrussische Diktator spricht vorwiegend russisch und – so seine Kritiker – denke immer noch sowjetisch. Ihm und seiner Regierung ist das Weißrussische suspekt, weil in ihm die Geschichte des Landes anklingt, die vor der Stalinisierung von Humanismus, Freiheit und Aufklärung geprägt war. Deswegen wird diese Sprache vom Staat nur wenig gefördert, auch wenn sie (wie das Russische) offizielle Staatssprache ist. Und deswegen sagt Lukaschenka, dass es auf der Welt nur zwei große Sprachen gebe: „Das Englische und das Russische.“ Das Weißrussische ist für Lukaschenka die Sprache der Opposition, der Nationalisten und nicht zuletzt der Faschisten. Weil weißrussische Patrioten im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierten, in der naiven Hoffnung, ihren eigenen Staat aufbauen zu können.

Heute sind es nicht mehr die alten, sondern die jungen Menschen, die dem Weißrussischen zu einer Art Wiedergeburt verholfen haben. Weniger die Politiker, sondern die Kulturschaffenden. Die Magazinmacher, die Schriftsteller, die Theaterleute und Musiker. „Heute ist die weißrussische Sprache nicht mehr so politisiert wie in den Neunzigern“, sagt Ljavon Volski, einer der bekanntesten Rockstars des Landes, dessen Lieder Hymnen der weißrussischen Kulturbewegung geworden sind. „Natürlich kommt es immer noch vor, dass man pauschal als Oppositioneller abgestempelt wird, wenn man Weißrussisch spricht. Wir als Musiker haben ja mit unseren Liedern viel dazu beigetragen, dass die Sprache auch von denen akzeptiert wird, die sie eigentlich nicht sprechen.“ So werde sein Lied ,Try Carapachi‘ (Drei Schildkröten), das von einer langsamen, aber stetigen Veränderung der Gesellschaft handelt, sogar von jungen Soldaten in der Ausbildung gesungen.

Dieses Lied spielt Volski auf seinen Konzerten gern als Zugabe. Die weißrussische Jugend steht dann vor der Bühne, reckt die Fäuste und singt jede Zeile mit. Und dazwischen rufen sie „Zhyvje Belarus“: Es lebe Belarus. Es ist der Ruf nach mehr Demokratie und Freiheit und nach dem Ende der Unterdrückung der weißrussischen Sprache.

Und tatsächlich sind die jungen Weißrussen auf ihrer Suche nach einer eigenen, nichtrussischen Identität und einer Sprache als deren Medium schon recht weit gekommen. „Die Situation ist zwar alles andere als optimal für das Weißrussische, aber sie verbessert sich ständig“, sagt Aleh Trusau von der Gesellschaft für weißrussische Sprache in Minsk. An den Universitäten werde Weißrussisch gesprochen, an vielen Schulen gelehrt. „Wir haben Filme auf Weißrussisch und Bücher sowieso.“

Wer heute durch Minsk geht, hört vor allem Russisch

Fast scheint es so, als sei das Weißrussische, das stark vom Baltischen, Polnischen, Jiddischen und auch Deutschen geprägt ist, zum ersten Mal an der Schwelle zu größerer Popularität. Nach langen Jahren, in denen die Sprache nur ein Verständigungsmittel der Bauern gewesen war. Denn wer aufsteigen wollte, musste Polnisch oder später Russisch lernen. „Viele meiner Landsleute assoziieren das Weißrussische nicht mit Glück, eher mit dem Leiden, das unser Volk in vielen Kriegen ertragen musste“, sagt der junge Schriftsteller Alhierd Bacharevytsch, der das Weißrussische heute zusammen mit anderen Autoren wieder attraktiver macht.

Wer heute durch Minsk mit seinen sowjetischen Prachtbauten spaziert, hört immer noch vor allem Russisch auf der Straße. Bei der letzten Volkszählung gaben aber immerhin mehr als 30 Prozent der Befragten an, im Alltag weißrussisch zu sprechen. Es ist die junge, urbane Elite, die sich der Sprache verschrieben hat und sie von den Dörfern zurück in die Städte holt. Zu ihr gehört auch Sjarhej Sacharau, der Anfang des Jahrtausends die Zeitschrift „Studumka“ entwickelt hat und heute die Website „34 Multimedia Magazine“ betreibt. „Gerade das Internet ist sehr stark von denen geprägt, die weißrussisch sprechen und schreiben“, sagt Sacharau, immer mehr Menschen wechselten mittlerweile zwischen Russisch und Weißrussisch.

So ist durch die Wiederkehr der Sprache ein Gefühl für die eigene Herkunft entstanden, das die jungen Weißrussen antreibt, sich über die Grenzen ihres einengenden Staates Gehör zu verschaffen. Oder, wie es Sacharau ausdrückt: „Wir Weißrussen sind heute etwas weniger unsichtbar.“


Andere Sprachminderheiten

Sorbisch

Wo: Deutschland (Sachsen und Brandenburg)

Wer: ca. 20.000 aktive

Sprecher Bis Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die sorbische Sprache immer wieder stark unterdrückt. Auch heute hat es das Sorbische unter dem Druck der Mehrheitssprache Deutsch schwer. Als Muttersprache wird es nur noch in wenigen Regionen gepflegt. Die Sorben sind mit politischer Unterstützung um eine Revitalisierung der Sprache bemüht.

Baskisch

Wo: Nordost-Spanien und Südwest-Frankreich

Wer:  600.000 bis 800.000

aktive Sprecher Die baskische Sprache ist eng mit den Autonomiebestrebungen der ethnischen Basken verbunden. Die Anerkennung als regionale Amtssprache und die starke Verankerung der baskischen Kultur in der Bevölkerung tragen zur Stärkung bei.

Katalanisch

Wo: Nordost-Spanien

Wer: ca. 8 bis 9 Mio.

Vor allem im 18. Jahrhundert und während der Franco-Diktatur 1939 bis 1975 wurde die katalanische Sprache vom spanischen Staat stark unterdrückt. Seit 2006 verstehen sich die Katalanen als eigenständige Kulturnation, ihre Sprache wird mit Unterstützung der spanischen Zentralregierung stark gefördert.