Er war ein Astronaut und die Aliens passten auf seine Kinder auf. So könnte man die Geschichte meines Vaters auch erzählen. Geboren wurde er in einem Bergnest auf Sizilien, er hatte sieben Geschwister, die Eltern waren einfache Landarbeiter. Vermutlich war in Bochum für ihn alles so fremdartig, als sei er in einer fernen Galaxie gelandet.

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Ein Bild aus dem Jahr 1961: Italienische „Gastarbeiter“ kommen in Deutschland an. So nannte man sie, weil man dachte, sie würden alle irgendwann nach Italien zurück gehen (Foto: Ullstein Bild)

Ein Bild aus dem Jahr 1961: Italienische „Gastarbeiter“ kommen in Deutschland an. So nannte man sie, weil man dachte, sie würden alle irgendwann nach Italien zurück gehen

(Foto: Ullstein Bild)

Meine Mutter stammte aus dem übernächsten Dorf. Dass die beiden ein Auge aufeinander geworfen hatten, fand meine Oma, die Mutter meiner Mutter, erstmal wohl nicht so toll. Denn das Dorf meines Vaters lag etwa 30 Kilometer entfernt  und meine Oma wollte immer alle nah bei sich haben. Die Ferne war ihr suspekt. Zu ihrer Freude zog mein Vater ins Dorf meiner Mutter. Zunächst. 

Mein Bruder kam zur Welt. Ins Haus regnete es rein. Mein Vater arbeitete auf Baustellen, wenn er Arbeit hatte. Ein zweites Kind war unterwegs. Dann tauchten die Plakate am Rathaus auf. Wer Interesse hatte, in Deutschland zu arbeiten, sollte sich melden. 

Mein Vater wollte das machen. Meine Mutter war nicht begeistert. Aber mein Vater brauchte ihre Unterschrift, die Ehefrau musste einverstanden sein. Mein Papa sagte: „Guck dir das Haus an, es regnet rein, wir haben kein Geld und keine Arbeit, so kann das nicht weitergehen.“ Meine Mutter unterschrieb und – um beim Astronautenbild zu bleiben – Vater startete ins All. Erste Station war Norditalien. Dort untersuchten ihn deutsche Ärzte. Planet Deutschland wollte keine Aliens mit ansteckenden Krankheiten. Mein Vater war gesund und durfte auf einer Basis namens Bochum landen, das war Anfang der 60er-Jahre. Für die Deutschen waren die Sizilianer die Aliens. Die konnten nicht einmal den Namen ihrer Stadt aussprechen. Sie sagten: Bocummi. In Bocummi gab es eine Baufirma, Müller + Wahmann, für die mein Vater arbeitete. Er lernte Deutsch und holte für die Baufirma weitere Männer aus den zwei Bergnestern vom Heimatplaneten, Verwandte, Freunde. Bis in die 70er-Jahre nannten die Deutschen das „Sippe“.

Dann holte mein Vater auch meine Mutter, Sohn und Tochter nach. Gegen den Willen der Oma, der schon 30 Kilometer zu weit entfernt waren. Meine andere Schwester und ich kamen in Bocummi zur Welt. Wir sprachen Sizilianisch. Das ist sowas wie das Bayerisch Italiens.

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Das vielleicht erste Espressokännchen Deutschlands: in einem Wohn- Schlaf- und Esszimmer italienischer Gastarbeiter (Foto: Helmut Meyer zur Kapellen/ imageBROKER/OKAPIA)

Das vielleicht erste Espressokännchen Deutschlands: in einem Wohn- Schlaf- und Esszimmer italienischer Gastarbeiter

(Foto: Helmut Meyer zur Kapellen/ imageBROKER/OKAPIA)

Viele der Männer, die mein Vater geholt hatte für Müller + Wahmann, lebten in einer Holzbaracke. Außen dran stand „Wohnlager“. Meine Eltern und wir Kinder wohnten in einem festen Haus daneben. Mein Vater war so etwas wie ein Hausmeister, bei Müller + Wahmann hieß das damals „Lagerverwalter“. Er half den Arbeitern bei Behördengängen und Übersetzungen und war sozusagen der Mittelsmann von Müller + Wahmann zwischen dem Bochumer Unternehmen und den Italienern. 

In dem Haus, wo wir wohnten, gab es Gemeinschaftsräume für die Arbeiter, einen Schwarz-Weiß-Fernseher, Duschen, einen kleinen Laden, wo meine Eltern den Arbeitern Nudeln verkauften, Bier und Tomatenmark.

Meine zwei Jahre ältere Schwester und ich ratterten mit einem Kettcar auf dem Hof herum, immer waren Menschen um uns, die Arbeiter spazierten mit uns durch die Straßen und gaben uns von der Pasta, die sie gekocht hatten. Es gab einen kleinen, mobilen Plattenspieler, in den Räumen und auf dem Hof erklangen Lucio Battisti und Little Tony mit ihren Hits. Auf dem Schwarz-weiß-Fernseher lief die ZDF-Hitparade oder, samstagmittags, die Sendung für die italienischen Gastarbeiter mit ein paar Berichten von der RAI, dem italienischen Rundfunk.

Chips, Pralinen und Likörchen wurden gereicht

Mittlerweile hatten auch andere Männer ihre Familien nachgeholt und lebten in richtigen Wohnungen mit Außenklo und Kohleofen. An den Wochenenden gab es ein fröhliches Besuchen und Gegenbesuchen, Chips, Pralinen und Likörchen wurden gereicht, die Männer rauchten. Und am Sonntag trafen sich alle in der Innenstadt von Bocummi zum italienischen Gottesdienst, danach wurde der Platz vor der Kirche zur Piazza, die Erwachsenen palaverten und machten Fotos mit kleinen klickenden Fotoapparaten und wir Kinder tobten herum. Das Leben war wie in einer italienischen Raumstation, errichtet auf dem Planeten Bochum. 

Meine Mutter spricht immer nur von den guten Erfahrungen, die sie damals in Deutschland gemacht habe und klingt dann etwas melancholisch. Sie lebt längst wieder auf Sizilien und ich glaube, ihr fehlt Deutschland oft, nicht nur wegen der Kinder und Enkel, die alle hier sind. 

Gegenüber unserem Wohnhaus war ein weiteres Mietshaus, ein sogenanntes Zechenhaus. Dort wohnte eine Rentnerin. Sie passte auf meine Geschwister auf, als ich zur Welt kam. Eine meiner Schwestern erinnert sich, dass sie die Rentnerin „Omamutti“ nannte. „Omamutti“ brachte meiner Mutter bei, wie man in Deutschland Kuchen backt, Marmorkuchen. Ich spielte mit den Kindern aus dem Zechenhaus und lernte so wohl in der Tat spielend Deutsch, nachdem ich mit der sizilianischen Sprache ins Leben auf der italienischen Raumstation gestartet war. Eine Freundin aus Kindertagen, Elke, hat mir mal, als ich erwachsen war, erzählt, dass ich sie früher „Elca“ nannte. Elke italianisiert. Wie Bocummi.  

Die Frau vom Zechenhaus wurde beim Tarantella-Reigen eingereiht und war verzückt

In dem Haus, in dem wir wohnten, fanden Feste statt. Die Verwandten kamen, es wurde gegessen und auf einem Plattenspieler lief Tarantella. Ich kann mich an eine Frau vom Zechenhaus erinnern, ich glaube, sie war alleinstehend, rauchte „Eve“-Zigaretten, wurde beim Tarantella-Reigen eingereiht und war verzückt. 

Wie sie sich wohl wahrnahmen, die Deutschen und die Gastarbeiter? Für die Sizilianer vom Dorf war das ungewohnt, eine alleinstehende Frau, die unter Fremden feiert. Für die Deutschen war es vermutlich seltsam, dass kleine Kinder bis in die Puppen mitfeiern. Und so weiter. Vielleicht konnten beide Seiten das Fremde gerade deshalb so gut akzeptieren und ins eigene Leben integrieren, weil man wusste: Die kommen eben aus einer anderen Welt, und da sind die Dinge nun einmal anders. 

Der Ort, wo wir wohnten, war abgelegen. Nebenan war eine Fabrik, auf der anderen Seite Felder. Ob man die Gastarbeiter damals nicht im Zentrum haben wollte? Die Bundesrepublik dachte, die Arbeiter gehen bald wieder zurück in ihre Herkunftsländer. Wozu dann so etwas wie staatliche Integrationsprogramme auflegen, von denen heute die Rede ist? Doch sicher nicht nur weil die Gastarbeiter zunächst nur Arbeitsverträge für ein oder zwei Jahre bekamen, war der Begriff Integration damals noch nicht so geläufig wie heute. 
 Aber de facto gab es Begegnung und Freundschaft zwischen Gastarbeitern und Deutschen: unter Nachbarn, auf der Arbeit, in der Schule, im Alltag – ohne Anbahnung durch die große Politik. Und manchmal denke ich, dass die Aliens sich gar nicht so fremd waren. All die Sizilianer stammten aus Landarbeiterfamilien, gelandet waren sie unter Leuten, die in Fabriken arbeiteten und neben dem Haus Gemüse anbauten. 

Irgendwann, viel später, als wir Kinder alle aus dem Haus waren, ging meine Mutter zurück in ihr Dorf nach Sizilien, dorthin, wo mein Vater bestattet ist. Wenn wir sie besuchen, backt sie oft Marmorkuchen.

Als Italien und Deutschland ein „Anwerbeabkommen“ schlossen

In der Bundesrepublik wuchs die Wirtschaft, und es fehlte bald an Arbeitskräften – während in den ländlichen Gegenden Italiens die Arbeitslosigkeit grassierte. So stellte sich die Situation in den 1950er-Jahren dar. 

Am 20. Dezember 1955 unterschrieben in Rom italienische und deutsche Politiker ein Anwerbeabkommen. Deutsche Unternehmen hatten nun die Möglichkeit, italienische Arbeitskräfte nach Deutschland kommen zu lassen. Die offizielle Bezeichnung war „Gastarbeiter“. Denn die Idee war, dass sie nur eine Zeitlang in Deutschland bleiben, danach gegebenenfalls durch neue Arbeiter ersetzt würden –  nach einem Rotationsprinzip. De facto aber wollten viele Firmen ihre einmal angelernten Arbeiter behalten. Und auch die Arbeiter wollten gerne bleiben. Deshalb holten viele Männer später ihre Familien nach. 

Das Abkommen wurde zum Vorbild für weitere bilaterale Verträge zwischen Deutschland und zum Beispiel Spanien, Jugoslawien, der Türkei. Die Initiative, die für beide Seiten Abhilfe schaffen sollte, ging oftmals auch von den Herkunftsländern aus. Nach dem Bau der Mauer 1961 stieg der Bedarf an Arbeitskräften in Westberlin und in der Bundesrepublik weiter an, weil Arbeitern aus der DDR der Zugang zu ihrem Arbeitsplätzen in Westberlin versperrt war und der Zuzug von DDR-Übersiedlern in die Bundesrepublik zum Erliegen kam. Legendär wurde der vorab blind aus einer Liste getippte millionste Gastarbeiter, ein Portugiese, der 1964 nach zweitägiger Zugreise vollkommen übernächtigt in Köln-Deutz ankam. Dort empfing ihn der Politiker und Wirtschaftsvertreter, darunter der Pressechef der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, in Köln mit Blumen, einer Ehrenurkunde und einem Geschenk: einem Moped. Eine Kapelle spielte, die Medien berichteten. Bilder, die in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingegangen sind. 

Mit der Öl- und Wirtschaftskrise und steigender Arbeitslosigkeit beendete die Bundesrepublik die Anwerbeabkommen im Laufe der 70er-Jahre.