Wenn du nicht noch eine Runde läufst, gibt’s heute kein Abendessen, sagte ich mir und rannte weiter – noch ein bisschen schneller. Am Ende lief ich knapp neun Kilometer – ohne Frühstück und mitten im Hochsommer bei gefühlten 32 Grad. Wenige Wochen zuvor war Lena Gercke als erste Gewinnerin von „Germany’s next Topmodel“ auf dem Cover der deutschen „Cosmopolitan“ abgebildet. Lena war 18, ich 15, und das Jahr war der Anfang von etwas, das mich heute noch manchmal beschäftigt: einem ziemlich gestörten Bild von meinem Körper.
Ein Apfel muss reichen
Ich hatte jede Folge auf ProSieben gesehen. Ich wollte nicht Germany’s next Topmodel werden, aber so auszusehen wie die Bewerberinnen wird ja wohl möglich sein, dachte ich mir. Sind doch ganz normale junge Frauen. Oder? Manche sprechen im Fernsehen Dialekt, wie ich damals. Andere weinen, weil sie Pickel haben, wie ich damals.
„Wie lang willst du den noch abkauen?“, fragte mich ein Freund, weil ich seit 15 Minuten am Kerngehäuse nagte
Meine Oberschenkel hatten im Sommer nach der ersten Staffel nur noch den Durchmesser einer Ein-Liter-Cola- Flasche. Als ich mittags beim Radfahren von der Schule nach Hause meine Beine in kurzer Hose inspizierte, war ich selbst leicht schockiert. Mein Wecker hatte wie jeden Tag um 6.45 Uhr geklingelt. Knapp sieben Stunden war ich wach. Gegessen hatte ich bis dahin: einen Apfel. Wie jeden Tag, seit ein paar Monaten.
13 Jahre später läuft die Sendung immer noch. Jedes Jahr eine Staffel. Laut einer Studie der AOK Nordost ist unter ihren Versicherten der Anteil der Frauen mit Essstörungen in der Altersgruppe 13 bis 17 Jahre von 2010 bis 2016 um 44 Prozent gestiegen, bei den 18- bis 24-Jährigen sogar um 55 Prozent. Sie waren etwa im Grundschulalter, als die erste Staffel lief.
Ich war immerhin schon in der achten Klasse und mein täglicher Apfel in der Pause Thema. „Wie lang willst du den noch abkauen?“, fragte mich mein bester Freund einmal, weil ich seit 15 Minuten am Kerngehäuse nagte. Er war genervt, weil wir uns früher in der Pause zusammen Leberkässemmeln beim Metzger geholt hatten. Nun freute ich mich sogar, dass er gemerkt hatte, wie ich mich beim Essen zusammenriss. Damals war ich mir sicher, dass er mich zu dick fand.
Wie gefährlich ist die Sendung?
Dass es mehr Essgestörte gibt als noch vor zehn Jahren (und es betrifft vor allem Frauen), liegt natürlich nicht nur an „GNTM“. In allen Altersgruppen zeigt die Studie der AOK-Nordost eine erhebliche Zunahme von Essstörungen seit 2010, beispielsweise 50 Prozent mehr bei den 50- bis 54-Jährigen. Es ist aber äußerst wahrscheinlich, dass sehr wohl ein Zusammenhang besteht. In einer Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) gaben 2015 zwei Drittel der befragten Essgestörten an, dass die Sendung sie zumindest beeinflusst habe.
Es! Ist! Ein! Döner! Die Art, wie Klum den Döner im Vorfeld zelebrierte, sagte eigentlich nur eines: Döner essen ist verdammt noch mal verboten
Ich war nicht magersüchtig, hatte aber sicher Untergewicht und lag auf meinem Zimmerboden vor dem Fernseher, um Sit-ups zu machen, während „Heidis Mädchen“ über den Laufsteg schwebten. In den ersten Staffeln, bevor sich Kritik regte, wurden sie noch richtig fertiggemacht, Körper vermessen und auf falschen Angaben zur Pogröße in den Bewerbungen herumgeritten. In der Sprache der Sendung hieß das: COM-PE-TI-TION. Es geht ja bei „GNTM“ nie darum, sein Bestes zu geben, es geht immer darum, besser (und schöner und dünner) als die anderen zu sein. „Es kommt (bei den Zuschauerinnen) zu Vergleichsprozessen, bei denen völlig übersehen wird, dass es sich hier um absolute Ausnahmeerscheinungen in Körperstatur und Gesichtszügen handelt“, so die IZI-Studie.
Die Kommission für Jugendmedienschutz prüfte die Sendung, nachdem die Studie veröffentlicht wurde, und befand, dass Heidi Klums Schönheitswettbewerb „nicht entwicklungsbeeinträchtigend“ sei. Problematische Szenen würden ausreichend relativiert, und kritische Kommentare bezüglich des Körpergewichts beschränkten sich auf die beruflichen Anforderungen an ein Laufstegmodel. Klum würde außerdem verdeutlichen, dass Hungern kein Weg sei.
In Frankreich ist die Kennzeichnung von Fotos, bei denen die Figur retuschiert wurde, mit dem Hinweis „Photographie retouchée“ inzwischen gesetzlich vorgeschrieben. Außerdem müssen Models eine Bescheinigung vom Arzt vorweisen, dass sie bezüglich ihres Gewichts nicht gesundheitlich gefährdet sind. Wer Models ohne diese Bescheinigung engagiert, kann mit bis zu 75.000 Euro Strafe belangt werden. Ähnliche Regelungen gibt es in Spanien und Israel. Auch deutsche Politiker und der Berufsverband Freie Fotografen und Filmgestalter e. V. haben sich zuletzt für solche Gesetze ausgesprochen.
Dazu fällt mir eine konkrete Szene ein: In einer der späteren Staffeln hatte Heidi Klum unglaubliche Lust auf Döner. Zumindest tat sie so. „Den ganzen Tag hab ich da drauf gewartet“, sagte sie am Ende der Folge zu einem Dönerverkäufer in Berlin. Als sie das vermeintliche Objekt der Begierde in den Händen hielt, holte sie mit spitzen roten Fingernägeln ein kleines Stück Fleisch aus dem Fladenbrot. Nächste Einstellung: Klum klammert sich mit zwei Händen an den Döner und kaut mit leeren Wangen offenbar auf Luft herum. Schnitt. Döner weg, Klum im Auto: „Also, ich hätte auch noch einen essen können.“ Diese Szene war aus mehreren Gründen ein Witz. Erstens: Niemand glaubt, dass sie den Döner gegessen hat. Zweitens: Allein dass der Döner ein Thema war, das mehrere Minuten der Sendung einnahm, zeigt den gestörten Umgang mit Essen. Es! Ist! Ein! Döner! Vielleicht nicht die gesündeste Mahlzeit ever, aber die Art, wie Klum den Döner im Vorfeld zelebrierte, sagte eigentlich nur eines: Döner essen ist verdammt noch mal verboten.
Irgendwann habe ich mir wieder erlaubt, auch ohne rennen zu essen. Dann immer öfter. Ich wurde älter, Heidi Klum peinlicher, die Sendung etwas, das man nur noch ironisch mit Take-away-Pizza gucken konnte, ohne vor seinen Freunden das Gesicht zu verlieren. Auch 13 Jahre später kann ich nicht verstehen, warum Klum immer noch mit absurd retuschierten Fotos über die Zukunft „ihrer Mädchen“ entscheiden darf.
Titelbild: Peter Wafzig/Getty Images