Wann sie sich vom Görlitzer Park entfremdet hat, kann Sarah Bittenbinder nicht mehr genau sagen. War es während der Coronazeit, als sie beobachtete, wie Suchtkranke sich in den Büschen des Parks Heroin spritzten? Oder als ihre Autoscheiben eingeschlagen wurden und die Polizei nichts unternehmen konnte? Vielleicht war es aber auch erst, als sie vom Balkon aus zuschauen musste, wie ein Mann aus dem Park stolperte und seine Freundin verprügelte. Gemeinsam mit ihrem Partner plant Sarah Bittenbinder deshalb, aus Berlin-Kreuzberg fortzuziehen: Ihre zwei Kinder sollen nicht weiter in solch einer Atmosphäre aufwachsen.
Dabei war Bittenbinder vor zwölf Jahren ganz bewusst hierhergezogen, weil sie die Offenheit der Menschen geschätzt hat, die alternative Szene, sagt sie. Der Park sei für sie lange eine Oase gewesen. „Aber in den letzten Jahren ist etwas gekippt.“
Die gemütliche Wohnung – breite Sofas, hohe Bücherregale, selbst gebackene Kekse – in der die 39-jährige Bittenbinder mit ihrer Familie wohnt, liegt nur etwa 100 Meter vom Görlitzer Park entfernt, einem schmalen Grünstreifen, insgesamt 14 Hektar groß. Es gibt dort zwei Spielplätze, einen Sportplatz, einen kleinen Streichelzoo. Seit Jahren wird über diesen Park diskutiert, deutschlandweit. Er gilt als Drehscheibe für Drogen, als unsicherer Ort. In öffentlichen Debatten wurde der Görlitzer Park immer wieder zum Symbol gemacht für eine angeblich gescheiterte Migrations- und Ordnungspolitik: In den Neunzigerjahren bekämpften sich hier Jugendbanden, nach 2012 landeten Menschen ohne Aufenthaltspapiere im Park und verkauften Gras an Tourist:innen. Immer wieder gab es Versuche der Polizei, die Dealer zu verdrängen, eine Null-Toleranz-Strategie, aber mit der Nachfrage blieb auch das Angebot.
Ein Zaun soll die Lösung sein
Im vergangenen Jahr wurde diese Debatte noch einmal neu entfacht: Am frühen Morgen des 21. Juni 2023 kam es zu einer mutmaßlichen Vergewaltigung im Park. Eine junge Frau gab an, von mehreren Männern misshandelt worden zu sein. Der Fall sorgte bundesweit für Aufsehen, und der Regierende Bürgermeister Kai Wegner, CDU, versprach daraufhin, er werde den Park wieder sicher machen, indem er nachts geschlossen werde mithilfe eines Zauns.
Diese Ankündigung ließ den Streit um den Görlitzer Park eskalieren. Der grün regierte Bezirk zog vors Verwaltungsgericht, um gegen den Zaunbau zu klagen. Ohne Erfolg, denn als Teil derselben Verwaltung ist eine Klage unzulässig. Es gründete sich die Gruppe „Görli Zaunfrei“, die nun regelmäßig Demonstrationen veranstaltet, auf denen unter anderem das Zerschneiden eines Zauns geübt wird, und die Berliner Rapgruppe K.I.Z spielte ein Soli-Konzert im Park. Jule Govrin von Görli Zaunfrei sagt: „Ein Zaunbau ist eine kurzfristig und kurzsichtig gedachte Lösung. Dabei wäre es viel wichtiger, eine längerfristige Lösung für die Probleme hier zu finden.“
Aber was sind das eigentlich für Probleme?
An einem Tag im Herbst stehen am Eingang des Görlitzer Parks ein paar Männer in Daunenjacken und suchen den Blick der vorbeieilenden Passant:innen. Es sind Dealer, die schon morgens ihren Platz einnehmen und bis spät in die Nacht immer wieder am selben Fleck auftauchen. Seit vielen Jahren sind es vor allem Menschen aus Westafrika, die dort stehen. Der Boden ist matschig, große Pfützen stehen auf den Wegen. Nur wenige Meter weiter spielen ein paar Jungs Basketball auf dem neuen Sportplatz. Menschen schieben Kinderwagen, Radfahrer:innen durchqueren den Park, auf einigen Bänken sitzen Passant:innen und trinken Kaffee.
Von Gefahr ist hier erst einmal wenig zu spüren. Doch laut Polizei trügt dieser Eindruck. Karsten Stephan ist Leiter des Abschnitts 53, der auch den Görlitzer Park umfasst. Er sagt, die Situation im Park habe sich so sehr verschlechtert, dass ihn Anwohner:innen eigentlich nicht mehr nutzen könnten. Er sagt: „Es ist eine Herausforderung.“
Der Park ist ein Ort mit viel Kriminalität, wird aber auch häufig kontrolliert
Rund 15.400 Einsatzstunden leistete die Polizei im Jahr 2023 im Görlitzer Park, machte Razzien, patrouillierte mit Streifenwagen über die schmalen Wege. Der Görlitzer Park und der angrenzende Wrangelkiez sind als „kriminalitätsbelasteter Ort“ eingestuft, die Polizei darf unter anderem ohne einen Vorverdacht kontrollieren. Insgesamt 1.686 Straftaten verzeichnete sie allein im Görlitzer Park 2023. Wer nachts durch den Park gehe, so beschreibt es Stephan, laufe Gefahr, ausgeraubt oder angegriffen zu werden. Stephan zufolge ist die Lage im Görlitzer Park dramatisch.
Das sehen nicht alle so. „Aus wissenschaftlicher Sicht muss man die polizeilichen Statistiken mit sehr großer Vorsicht genießen“, sagt Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er untersucht die Arbeit der Polizei mit soziologischen Mitteln und schaut sich an: Wo werden Straftaten begangen? Und wie ließe sich das verhindern? Singelnstein sagt, das Problem mit der Statistik sei: Sie würde nicht die Realität wiedergeben. Die Zahlen seien ein Zerrbild. Denn hohe Zahlen würde es vor allem dort geben, wo die Polizei viel kontrolliere. Also: mehr Polizist:innen, mehr Anzeigen.
Ein Großteil der Straftaten im Görlitzer Park waren laut Statistik im vergangenen Jahr Drogenbesitz und Aufenthaltsdelikte. Beides gefährdet Passant:innen nicht. Allerdings gab es auch 180 sogenannte Rohheitsdelikte, schreibt die Berliner Polizei auf Anfrage – darunter fallen Raub und Körperverletzung –, und acht Sexualdelikte. Wer die Betroffenen dieser Delikte waren, ob zum Beispiel Passant:innen oder Dealer, das gibt die Statistik nicht her.
Wie schlecht steht es also um den Görlitzer Park? Singelnstein sagt, es sei wichtig zu unterscheiden zwischen objektiver, also messbarer Sicherheit und dem subjektiven Sicherheitsgefühl. „Das sind zwei unterschiedliche Dinge.“ Er sagt, oft gehe es bei Debatten um Sicherheit eigentlich um soziale Konflikte – und für die brauche es soziale Lösungen. Also zum Beispiel: Maßnahmen gegen Wohnungsnot oder Suchtkrankheiten.
Viele Anwohner:innen fühlen sich unwohl
Fragt man im Viertel nach dem subjektiven Sicherheitsgefühl, erzählen etliche Anwohner:innen ähnliche Geschichten wie Bittenbinder: Suchtkranke, die im Hausflur randalieren, eingeschlagene Autoscheiben, Spritzen auf Spielplätzen. Wenig davon taucht in der Statistik auf, aber die Folge ist: Angst.
Eigentlich könnte Bittenbinder sich also angesprochen fühlen von den Maßnahmen des Senats, aber sie sagt: „Ich fühle mich alleingelassen.“ Denn ein Zaun, glaubt sie, werde die Situation für sie als Anwohner:in nicht verbessern, sondern verschlimmern.Diese Angst teilt auch Astrid Leicht. Die Sozialarbeiterin beobachtet die Situation im Viertel seit mehr als 20 Jahren. Sie arbeitet für den Verein Fixpunkt e.V., der sich vor allem um Suchtkranke kümmert. Sie sagt, in der Coronapandemie sei die Droge Crack populär geworden, ein Gemisch aus Kokain und Natron, das extrem abhängig macht und aufputschend wirkt. Der Rausch wirkt nur kurz, Suchtkranke müssen oft schnell nachlegen. Die Szene bildet sich dort, wo die Dealer sind – in diesem Fall eben im Görlitzer Park. Ein Zaun, das befürchten Leicht wie auch Bittenbinder und viele andere Anwohner:innen, werde den Handel aus dem Park in die Wohngebiete verdrängen, in Hauseingänge und Hinterhöfe.
Auf Anfrage schreibt ein Pressesprecher des Senats, die Polizei sei vorbereitet, eben das zu verhindern. Welches Konzept es dafür gibt, schreibt er nicht. Der Senat betont, der Zaun sei nur eine von zwanzig Maßnahmen, die für mehr Sicherheit sorgen sollen. Dazu gehören unter anderem eine bessere Betreuung der öffentlichen Toiletten und mehr Sportangebote im Park. Es soll mehr Licht geben und einen Staatsanwalt, der eigens der Gegend um den Park zugewiesen ist, um die Verfahren zu beschleunigen.
Ein Zaun hilft nicht gegen die sozialen Probleme im Viertel
Der Park ist bereits größtenteils mit einer alten Mauer und Zäunen umgeben, zwei offene Abschnitte müssen noch geschlossen und an den Parkausgängen Tore und Drehkreuze installiert werden. Die Umzäunung ist eine der teuersten Maßnahmen: Rund 1,5 Millionen Euro wird der Bau wohl kosten, 800.000 Euro jährlich sind für das Personal für die nächtliche Schließung vorgesehen. Der Polizist Karsten Stephan hofft, dass die Szene dadurch aus dem Park verdrängt wird. Wenn die Polizei sich nachts nicht mehr um den Park kümmern muss, glaubt er, könne sie in den umliegenden Wohngebieten leichter für Sicherheit sorgen.
Bittenbinder ist weniger optimistisch. Wenn es nach ihr ginge, bräuchte es mehr Sozialarbeiter:innen, mehr sozialen Wohnraum, eine bessere Zusammenarbeit von Polizei und Sozialarbeiter:innen, einen Umgang mit der Crack-Problematik.
Im Sicherheitskonzept für den Görlitzer Park sind auch einige soziale Maßnahmen enthalten: mehr Geld für Sozialarbeiter:innen zum Beispiel und mehr Unterstützung für Notschlafstellen – immerhin ein Anfang, aber die Aktivist:innen von Görli Zaunfrei finden: Ein ganzheitliches Konzept sei das noch lange nicht.
Nach Verzögerungen soll der Zaun im Frühjahr fertiggestellt werden. Ein Jahr später, so der Senat, sollen die Maßnahmen ausgewertet werden. Sollte die nächtliche Schließung des Parks keine positive Wirkung gebracht haben, werde sie wieder rückgängig gemacht.