fluter.de: Herr Hachmeister, Sie haben vor Jahren das Buch „Nervöse Zone“ geschrieben, das Journalisten beschreibt, die die Politik durch ständige Warnungen vor Migration und Offenheit in eine nationalistische Agenda treiben. Nervöse Zone – das könnte auch für manche Berichterstattung der vergangenen Tage gelten. Tragen die Medien dazu bei, dass die Menschen in ständiger Alarmbereitschaft sind und Attentäter selbst dort sehen, wo keine sind?
Lutz Hachmeister: Es gibt eine Grundtendenz zum Alarmismus, die durch die prekäre ökonomische Lage der traditionellen Medienhäuser und die Konkurrenz neuer Online-Medien noch verschärft wird. Und das überträgt sich natürlich auf das Publikum. Wir kennen aus der Kommunikationswissenschaft die gut belegte „Kultivierungsthese“, also dass sich Darstellungsmuster in den Medien auf Stimmungen oder Ängste der Bevölkerung sehr deutlich auswirken, dass es etwa zu drastischen Fehleinschätzungen der realen Kriminalitätsrate kommt. Womit ich nicht sagen will, dass es keine realen Gefahren durch den IS-Terror gibt, aber es trägt nicht zur Aufklärung bei, jeden Amoklauf dort spekulativ zu verorten. Eine hysterisierte Berichterstattung trägt eher dazu bei, Nachahmungstäter anzuspornen.
Der Zeitdruck ist für den Journalismus durch die Rasanz der Ereignisse und der Konkurrenz zu Twitter oder Facebook noch größer geworden. Wo führt diese Entwicklung hin?
Es gibt, vor allem seit der Entwicklung von Twitter zu einer Art Nachrichtenkanal, eine interessante Zirkelbewegung: Vor allem im Fernsehen, auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, werden Tweets vorgelesen, auf Twitter wird die Fernsehberichterstattung kommentiert. Was die Nachrichtenleistung betrifft, gerade bei Unglücken und Katastrophen aller Art, ist Twitter das schnellere Medium, das lässt sich auch nicht mehr zurückdrehen. Twitter und auch Facebook sind aber auch Gerüchtemedien und nicht gerade die bevorzugten Orte für aufklärende Interpretationen. Der professionelle Journalismus müsste sich in der entgrenzten Welt vieler Kommunikationskanäle neu orientieren, was natürlich nicht heißt, dass er seine aktuelle Nachrichtenleistung aufgeben kann. Es bringt aber nichts, Tweets vorzulesen, um vorzutäuschen, dass man nahe beim Volk ist.
„Es gibt einfach vorgefasste Interpretationsmuster, für die man Bestätigung sucht“
Gibt es Vorteile, über Liveticker und Social Media so nah dran am Verbrechen zu sein?
Es gibt sicher Vorteile, aber eher für polizeiliche Warnungen oder die persönliche Kommunikation. Twitter kann auch eine Quelle für Journalisten sein, wenn sie sich nicht im Geschwindigkeitsrausch verlieren. Das ist aber nicht einfach. Ich bin ganz froh, in einer Welt ohne das Internet aufgewachsen zu sein und auch in einer publizistischen Sphäre ohne Online-Medien gearbeitet zu haben. Technologie- und Kulturkritik bringen ja meistens nichts, aber für mich biografisch ist es so.
Schon am nächsten Morgen nach dem Amoklauf in München berichteten Zeitungen von einem Terroranschlag, obwohl das in der Nacht zuvor lange unklar war und sich als falsch herausstellte. Wie kommt es dazu?
Es gibt einfach vorgefasste Interpretationsmuster, für die man Bestätigung sucht. Man konnte das am Abend der Amoktat in München sehr schön bei dem ARD-Moderator Thomas Roth beobachten, wie er versucht hat, nahezu allen zugeschalteten Gesprächspartnern bestimmte Spekulationen nahezulegen. Das ist sehr unprofessionell. Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, im Livefernsehen über eine längere Strecke unvorhergesehene Ereignisse zu kommentieren oder zu begleiten. Dazu braucht man eine Menge Training, Reflexion und Erfahrung, und der Bedarf an Weiterbildung scheint mir hier bei ARD und ZDF, an die andere Ansprüche zu stellen sind als an Privatsender, ziemlich hoch zu sein. Bei gedruckten Zeitungen kommt natürlich das klassische Problem des Redaktionsschlusses hinzu.
„Der ökonomische und publizistische Konkurrenzdruck führt dazu, dass man auch bei den Einordnungen schneller sein will als andere“
Manchmal spricht aus den Berichten fast eine Sehnsucht nach klaren Einordnungen heraus. Warum ist es so schwer für Journalisten zuzugeben, dass sie sich erst einmal nicht sicher sind?
Außer den bekannten anthropologischen Konstanten, die nicht journalismusspezifisch sind, gibt es einfach diesen ökonomischen und publizistischen Konkurrenzdruck, der dazu führt, dass man auch bei den Einordnungen schneller sein will als andere. Zudem muss man zugeben, dass man auch als Leser oder Zuschauer Einordnungen haben will. Aber dem Publikum fällt schon auf, wenn im Fernsehen Korrespondenten zugeschaltet werden, die gar nichts wissen, sondern nur vom Hörensagen berichten. Da wird Journalismus gespielt wie elektronische Kinderpost.
Bei der Zeitungslektüre hat man manchmal den Eindruck, dass sich die Reporter geradezu in den Beschreibungen von Schrecken und Angst suhlen. Versetzen solche Beschreibungen die Leser in Panik?
Die unmittelbaren Wirkungen gehen doch eher vom Livefernsehen oder von den sogenannten „sozialen Medien“ mit ihren Handyvideos aus. In Zukunft, bei noch besserer Bildauflösung, wird jeder zum Kamera-Operateur in Echtzeit. Das erhöht noch einmal die voyeuristischen Möglichkeiten, denen wir alle unterliegen. Man kann nur versuchen, eine gewisse Distanz dazu zu finden. Es ist ja seit längerem klar, dass Terroristen auf eine möglichst umfassende Verbreitung der Bilder von ihren Taten aus sind.
In München war der beste Journalist der Pressesprecher der Polizei – sagen manche. Was sagt das über den Zustand des Journalismus?
Ja. Er hat klar gesagt, was wer weiß und was er auch nicht weiß. Und er hat dumme Fragen von desorientierten Journalisten mit großer Selbstsicherheit als solche bezeichnet. Er hat unfreiwillig gezeigt, dass viele Journalisten für ihren Job nicht qualifiziert sind. Das habe ich in dieser Form vorher noch nicht erlebt. Ein Debakel für den Journalismus.
Lutz Hachmeister hat als Journalistik-Professor an der Uni Dortmund Mediengeschichte und Politik gelehrt. Gleichzeitig ist er aber selbst als Journalist tätig und produzierte mehrere preisgekrönte Dokumentarfilme und Hörspiele. Zudem gründete er das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM).