Thema – Wahrheit

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Die Frau, die sich traute

Hannah Arendt hatte viel zum Thema Wahrheit zu sagen. Zum Beispiel, dass die Nazis keine Monster, sondern erschreckend normale Menschen waren

„Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet.“ Das schrieb die Philosophin und politische Theoretikerin Hannah Arendt in ihrem Aufsatz „Wahrheit und Politik“. Ein hochaktueller Satz, auch mehr als fünfzig Jahre später. Besonders in den Sozialen Medien ist der Vorwurf der Lüge an die Politik nie weit weg – im Zusammenhang mit Flüchtlingen oder, wie seit ein paar Monaten, angesichts der Corona-Maßnahmen. Davon konnte Hannah Arendt noch nichts wissen. Aber das grundlegende Problem hat sie in aller Schärfe in ihrem Text von 1964 in die Frage gekleidet: Bleibt die Wahrheit notwendig ohnmächtig – und muss sich umgekehrt politische Macht auf Lügen, auf Betrug stützen?

Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren und gestorben 1975 in New York, wurde von einer Zeit geprägt, in der das Lügen zum Staatshandeln wurde. Mit mörderischen Konsequenzen. Gemeint ist zuallererst das nationalsozialistische Regime, das den Zweiten Weltkrieg entfesselte und für den Holocaust verantwortlich war – in Arendts Worten ein „Verbrechen gegen die Menschheit, begangen am jüdischen Volke“. Auch der Terror in der sozialistischen Sowjetunion unter dem Diktator Stalin vor allem in den 1930er-Jahren fiel nach Hannah Arendt unter den Begriff der „totalen Herrschaft“. Ohne Propaganda, ohne großflächiges Lügen wären diese Systeme undenkbar gewesen, weil zur Wahrheit schlicht und einfach der Massenmord gehörte, aus welchen Gründen auch immer er verübt wurde. Wie es dazu kommen konnte, hat Arendt in ihrem 1951 erstmals erschienenen Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ untersucht.

Hannah Arendt erkannte das Banale im Bösen, den „Hanswurst“ in führenden Nazis

Insbesondere der Nationalsozialismus bildete die Negativfolie, vor der Hannah Arendt ihre Theorie von Politik und politischem Handeln entwickelte. Als junge Frau und Jüdin floh sie bereits 1933 aus Deutschland, zunächst nach Frankreich und später in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod bleiben sollte, als Professorin für politische Theorie und Philosophie in Chicago und New York. 1961 reiste sie nach Jerusalem, um den Prozess Israels gegen Adolf Eichmann zu beobachten, einen hochrangigen Nazifunktionär, der die Deportation der europäischen Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager organisiert hatte – und damit deren Ermordung. In ihrem Buch über den Prozess, der mit der Todesstrafe endete, prägte Hannah Arendt die Formel von der „Banalität des Bösen“. Die Anklage zeichnete von Eichmann das Bild eines Antisemiten mit Lust am Leid der Juden. Doch Hannah Arendt erkannte in dem Mann, den sie im Gerichtssaal sah, eher einen „Hanswurst“, eigentlich einen erschreckend normalen, das heißt, banalen Menschen.

Die Schilderung des Eichmann-Prozesses hat, für Arendt unerwartet, das ausgelöst, was heute „Shitstorm“ heißt. Jüdische Organisationen und Aktivisten kritisierten aufs Schärfste unterschiedliche Aspekte, über die Arendt in ihrem Eichmann-Buch schreibt – und auch, wie sie davon erzählt, an­geblich mit zu wenig Einfühlungsvermögen für das jüdische Leid.

Was heute vom Fall Eichmann übrig bleibt, ist Arendts Erkenntnis, dass die farblosen Beamten von nebenan in finsteren Zeiten durchaus imstande sein können, ohne jedes Unrechtsbewusstsein ungeheuerliche Verbrechen zu begehen. Wobei man sicher hinzufügen muss, dass Adolf Eichmann nicht irgendein beliebiger Regierungsbeamter war, sondern schon vor Hitlers Machtübernahme ein überzeugter Nationalsozialist. Insgesamt aber hat Hannah Arendt eine beunruhigende Erkenntnis ausgesprochen.

Macht und Gewalt war ihr Lebensthema

Wurden solche Erkenntnisse allerdings auch politisch unbequem, sah die Philosophin sie als bedroht an. Im Aufsatz „Wahrheit und Politik“ legt sie ihr Augenmerk auf „Tatsachenwahrheiten“ – Ereignisse, die sich nachweisbar abgespielt haben, historische Daten etwa wie der Überfall Deutschlands auf Polen, der am 1. 9. 1939 den Zweiten Weltkrieg auslöste. Diese „Tatsachenwahrheiten“, so Arendt, könnten problematisch besonders für Gesellschaften werden, in denen der totale Terror herrscht und die sich ihre Geschichte gerne selbst neu schreiben oder besser: zurechtlügen. Grundsätzlich gelte das aber auch für demokratische Staaten, wenn diese faktisch Gegebenes wie Meinungen behandelten. Dagegen bezeichnete Hannah Arendt Wahrheit 1964 als das, „was der Mensch nicht ändern kann“. Die Wahrheit sei der „Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt“.

Zu der Schlussfolgerung gehört: Alles andere, was zwischen „Grund“ und „Himmel“ vorstellbar ist, kann, darf und soll sich ändern. Für Hannah Arendt lag das Wesentliche des Politischen in der Gestaltung unserer gemeinsamen Welt, und zwar aus unseren unverwechselbaren persönlichen Per­spektiven heraus. Politik hat Arendt als einen öffentlichen Raum der Freiheit verstanden. Das Macht-Haben hatte für sie nichts mit Zwang, Unterdrückung oder Gewalt zu tun. Vielmehr entspreche Macht „der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“, wie es in Arendts Schrift „Macht und Gewalt“ von 1970 heißt. Und: Sobald sich eine mächtige Gruppe auflöse, verschwinde mit ihr auch wieder die Macht.

In diesem Sinn bedeute Politik eher, die Macht zum Handeln zu haben als die Macht zum Betrügen. Trotzdem scheint es Situationen zu geben, in denen das Lügen zum richtigen politischen Mittel werden kann. Lernen kann man das aus einem Fernsehinterview, das Hannah Arendt 1964 dem Journalisten Günter Gaus gegeben hat und das auf YouTube zu finden ist. Darin berichtet Arendt, dass sie, kurz nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, verhaftet wurde. Sie hatte für eine zionistische Organisation antisemitische Äußerungen im Land dokumentiert. Der Polizist, der sie verhörte, sei ihr sogar wohlgesonnen gewesen. Nur leider, leider, und das erzählt Arendt mit geradezu diebischer Freude, habe sie den armen Mann über ihre wahren Auftraggeber belügen müssen. Kurz darauf kam sie frei und verließ Deutschland.

Wenn ein ganzer Staat auf Verlogenheit fußt, ist Lügen also vielleicht das einzig Wahre.

Titelbild: Fred Stein Archive/Archive Photos/Getty Images

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