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„Ich setze auf die Jugend“

Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano ist gestorben. fluter.de erzählte sie im Interview, warum der 8. Mai deutschlandweit ein Feiertag sein sollte

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Esther Bejarano

fluter.de: Frau Bejarano, Sie engagieren sich schon lange dafür, dass die Verbrechen des Naziregimes nicht in Vergessenheit geraten. Sie machen Musik, gehen in Schulen und sprechen – vor allem mit jungen Leuten – über das, was Sie erlebt haben. Warum jetzt diese Onlinepetition, in der Sie fordern, dass der 8. Mai ein bundesweiter Feiertag wird?

Esther Bejarano: Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus. In vielen europäischen Ländern, die damals von den Nazis besetzt waren, ist der 8. Mai bereits ein Feiertag. Aber in Deutschland nicht. Es ist nicht nur der Tag, an dem das deutsche Militär kapituliert hat, sondern auch der Tag der Befreiung von allen, die in den Konzentrationslagern gesessen haben. Mehr noch: Die ganze Welt ist an diesem Tag vom schrecklichen Hitlerfaschismus befreit worden. Das muss doch gerade in Deutschland gefeiert werden.

Es gibt noch andere Vorschläge für einen solchen Feiertag: zum Beispiel den Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar. Warum plädieren Sie gerade für den 8. Mai?

Auschwitz wurde zwar am 27. Januar befreit, aber wir nicht. Die Gefangenen mussten schon vorher auf die Todesmärsche und in andere Konzentrationslager gehen. Da waren wir genauso Gefangene wie immer. Wenn jemand auf dem Todesmarsch nicht mehr weitergehen konnte, weil er zu schwach war, um zu laufen, wurde er gnadenlos von diesen Verbrechern, den deutschen Faschisten, ermordet. Die wurden alle erschossen und blieben auf der Straße liegen.

„Das Hitlerbild hat lichterloh gebrannt. Die amerikanischen und russischen Soldaten und die Mädchen aus dem KZ haben um das Bild herum getanzt. Und ich stand da mit dem Akkordeon“

Sie waren selbst auf einem der Todesmärsche dabei – aus dem KZ Ravensbrück.

Ich hatte das Glück, während des Todesmarsches vor den Nazis fliehen zu können. Wir wussten ja nicht, was die mit uns machen wollten. Wir dachten: Vielleicht bringen die uns an die Ostsee und ertränken uns dort. Auf dem Todesmarsch haben wir gehört, dass ein SS-Mann zu einem anderen SS-Mann sagte: „Es darf nicht mehr geschossen werden.“ Da haben wir uns überlegt, dass wir nicht mehr weitergehen wollen. Wir waren sieben Mädchen – und wir sind davongekommen.

Das muss kurz vor dem 8. Mai gewesen sein. Können Sie sich an diesen Tag vor 75 Jahren noch konkret erinnern?

Ich kann das nicht auf den Tag genau sagen. Wir sind geflohen und dann irgendwann auf amerikanische Soldaten getroffen. Denen haben wir die eintätowierte Nummer von Auschwitz auf dem linken Unterarm gezeigt. Und die haben sich so gefreut, dass sie uns helfen konnten. Wir haben gesagt: „Wir wollen weg, nur raus aus Deutschland.“ Dann sind wir weitergegangen und zusammen in das kleine Städtchen Lübz gekommen, das ist in Mecklenburg-Vorpommern. Da kam auf einmal die Rote Armee an. Die amerikanischen Soldaten und die russischen Soldaten haben sich umarmt und geküsst und waren so glücklich, dass der Krieg endlich zu Ende war. Ich habe den Amerikanern damals erzählt, dass ich in Auschwitz im Orchester Akkordeon spielen musste. Später kam ein amerikanischer Soldat mit einem Akkordeon an und hat mir das geschenkt. Er hat gesagt: „Der Krieg ist zu Ende, wir müssen das feiern.“ Ein russischer Soldat hat ein riesengroßes Bild von Adolf Hitler auf den Marktplatz gestellt, und ein amerikanischer und ein russischer Soldat haben es gemeinsam angezündet. Das Hitlerbild hat lichterloh gebrannt. Die amerikanischen und russischen Soldaten und die Mädchen aus dem KZ haben um das Bild herum getanzt. Und ich stand da mit dem Akkordeon und habe Musik gemacht. Das war meine Befreiung vom Hitlerfaschismus.

Wenn Sie es sich wünschen könnten: In welcher Form sollte das Gedenken am 8. Mai als Feiertag stattfinden?

Das bleibt jedem selbst überlassen, wie er oder sie das feiern will. Da muss nicht getanzt oder Musik gemacht werden. Es muss einfach klar sein: Der Tag der Befreiung ist ein Freudentag für uns.

Ob es nun einen Feiertag geben wird oder nicht – wie sollten wir Ihrer Meinung nach an die Verbrechen des NS-Regimes erinnern?

Leider wird meine Generation bald nicht mehr da sein. Ich bin 95 Jahre alt. Noch gibt es viele, die in diesem Alter sind, aber wir werden nicht ewig leben. Es ist zu hoffen, dass viele Institutionen – zum Beispiel das Auschwitz-Komitee – dafür sorgen, dass man mit Dokumentationen und Büchern an das Geschehene erinnert. Ganz wichtig ist, dass die Menschen das auch wollen. Wenn jemand will, dass der Faschismus nicht wieder aufkommt, dann kann er mit allen möglichen Mitteln dagegen angehen. Ich setze auf die Jugend. Ich glaube, die Jugend hat begriffen, dass wir eine Demokratie brauchen. Die ganzen rechtslastigen Parteien, die wir hier haben, sind gegen die Demokratie. Wir müssen dafür kämpfen, die Demokratie zu erhalten.

Esther Bejarano, 1924 in Saarlouis geboren, war eines der letzten überlebenden Mitglieder des „Mädchenorchesters“ des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz. Das Orchester wurde auf Befehl der SS zusammengestellt. Die Mädchen mussten spielen, wenn die Gefangenen am Tor ein- und ausmarschierten und wenn neue Züge ankamen, um Gefangene in das Lager zu bringen. Hinter ihnen standen Soldaten der SS mit Gewehren, erzählte sie. Esther Bejarano war Vorsitzende des Auschwitz-Komitees für die Bundesrepublik Deutschland e.V., Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA e.V.) und sang in der antifaschistischen Rap-Gruppe Microphone Mafia. Esther Bejarano starb am 10. Juli 2021.

Titelbild: Axel Heimken/picture alliance/dpa

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