1.075 Anzeigen waren es in Köln, 467 davon: sexualisierte Übergriffe. Ein „Zivilisationsbruch“, so bezeichnete Bundesjustizminister Heiko Maas das, was in der Silvesternacht in Köln und anderen deutschen Städten geschah.
Seitdem wurde deutlich lauter als zuvor über eine Reform des Sexualstrafrechts diskutiert. Der nun von der Regierung abgesegnete Gesetzentwurf ist allerdings schon seit vergangenem Jahr geplant. In dem Ergebnis sieht der Justizminister einen wichtigen Schritt zur Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung: „Viele Fälle, in denen das Opfer einer sexuellen Handlung aus Angst zustimmt oder sich ihr wegen eines unerwarteten Übergriffs nicht widersetzt, können bislang strafrechtlich nicht geahndet werden. Es ist höchste Zeit, dass sich das ändert.“
Welche Schutzlücken das Gesetz bisher noch aufweist, was genau geändert werden soll und warum Kritikern die geplante Verschärfung nicht weit genug geht - die wichtigsten Fragen zur Reform des Sexualstrafrechts.
Was gilt laut derzeitigem Strafrecht (Paragraph 177) als Vergewaltigung?
Vergewaltigungen sind in Deutschland bisher in drei Fällen strafbar: wenn der Täter Gewalt anwendet, wenn der Täter Leib und Leben des Opfers bedroht, oder wenn der Täter die schutzlose Lage eines Opfers ausnutzt. Vergewaltigungen sind hingegen nicht strafbar, wenn das Opfer „nur“ nein sagt. Für die Rechtsprechung muss sich das Opfer also körperlich wehren, Widerstand leisten, um Hilfe rufen, seine sexuelle Selbstbestimmung quasi mit Händen und Füßen verteidigen, und vor allem: dies beweisen, wenn der Fall vor Gericht landet.
Was ist laut aktuell geltendem Strafrecht keine Vergewaltigung?
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) hat in einer Studie aus dem Jahr 2014 dutzende Fälle zusammengetragen, in denen sexualisierte Gewalt ausgeübt wurde, die nach dem Gesetz aber nicht strafbar ist. Ein Beispiel: Eine Frau trifft im Club einen Freund und geht mit ihm an die frische Luft. Obwohl das Verhältnis immer platonisch war, wird der Freund aufdringlich. Die Frau sagt mehrmals nein, sie weint und dreht den Kopf weg, als der Freund sie küssen will. Aus Angst vor körperlicher Gewalt lässt sie alles Weitere über sich ergehen – und erlebt eine Vergewaltigung, die laut Gesetz keine ist.
Zwei weitere Beispiele: Eine ausländische Frau erduldet sexualisierte Gewalt durch ihren Mann, ohne sich körperlich zu wehren – weil der ihr droht, andernfalls für ihre Abschiebung zu sorgen. Eine andere Frau wehrt sich nur verbal, aus Angst die Kinder zu wecken – beides bislang keine Vergewaltigungen im juristischen Sinne.
Was sind die Folgen dieser Lücken im Sexualstrafrecht?
Laut Strafverfolgungsstatistik führen nur 8,4 Prozent der laut Kriminalstatistik angezeigten Vergewaltigungen am Ende zu einer Verurteilung. Der Deutsche Juristinnenbund kritisiert daher seit Jahren, dass es in Deutschland Fälle von Vergewaltigungen gibt, die straflos bleiben. Und dass es viel zu oft die Opfer seien, die vor Gericht ihr Verhalten verteidigen müssen.
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe geht sogar davon aus, dass zwischen 85 und 95 Prozent der sexualisierten Übergriffe nie angezeigt werden.
Auch das Justizministerium erklärt auf Nachfrage: „Bisher ist die Verurteilungsquote zu gering“. Und: Man sei es den Frauen schuldig, daran etwas zu ändern. Sicherlich auch dem gesellschaftlichen Klima – wenn nicht angezeigt wird, weil nicht bestraft wird, dann leidet das generelle Vertrauen in den Rechtsstaat.
Was genau steht in dem neuen Entwurf zur Verschärfung des Sexualstrafrechts?
Im Strafgesetzbuch gibt es neben dem „Vergewaltigungsparagraphen“ §177 den §179. In dem geht es bisher um zum Widerstand unfähige Personen“, also beispielsweise um Menschen, die sich wegen einer körperlichen oder geistigen Einschränkung nicht gegen sexualisierte Gewalt wehren können.
Dieser Paragraph soll nun neu gefasst und „Unfähigkeit“ genauer definiert werden. Sexualisierte Gewalt soll dann unter Strafe stehen, wenn „besondere Umstände“ ausgenutzt werden. Diese liegen zum einen vor, wenn der Täter das Opfer überrumpelt, also einen Überraschungsmoment ausnutzt. Zum anderen liegen besondere Umstände vor, wenn das Opfer im Falle des Widerstands ein „empfindliches Übel“ befürchtet. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Frau Angst vor Gewalt durch ihren immer wieder gewalttätigen Mann hat. Das Justizministerium will so „alle strafrechtlich relevanten Schutzlücken“ geschlossen wissen.
Ist die geplante Änderung eine Reaktion auf die Übergriffe in der Silvesternacht?
Nein. Der Referentenentwurf wurde schon im Juli 2015 auf den Weg gebracht, lag aber bis zum Dezember im Kanzleramt. Erst vor Weihnachten wurde er an Länder und Verbände zur Stellungnahme verschickt.
Das Justizministerium hatte im vergangenen Jahr eine Reformkommission eingesetzt, die überprüfen soll, inwieweit das Sexualstrafrecht grundsätzlich überarbeitet werden muss. Dabei geht es nicht nur um Vergewaltigungen, sondern auch um andere Fälle sexualisierter Belästigung. Hintergrund ist die 2014 in Kraft getretene Istanbul-Konvention des Europarats, die „nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen“ unter Strafe stellt. Deutschland hat sie unterschrieben und sich damit verpflichtet, Frauen grundsätzlich vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Die Konvention muss aber noch in deutsches Recht umgewandelt werden.
Ärger gibt es wegen der Lücken im Sexualstrafrecht seit Jahren. Über hunderttausend Menschen haben bereits die Online-Petition vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe unterzeichnet - für eine „umfassende Reform“ des Sexualstrafrechts. Unter dem Hashtag #neinheisstnein diskutiert das Netz bereits seit 2014, wie die sexuelle Selbstbestimmung gesetzlich garantiert werden kann: „Man stelle sich vor, ein Raub zählt nur als Verbrechen, wenn die Opfer sich dagegen gewehrt hätten“, schreibt etwa @Frl_Bruenett auf Twitter und @LutzKollbach fordert: „Heiko Maas, schaffen Sie ein modernes Sexualstrafrecht!“
Was stört Kritiker an der geplanten Verschärfung des Sexualstrafrechts?
Viele Kritiker begrüßen grundsätzlich die Verschärfung. Ihnen geht sie aber nicht weit genug: Den Grundsatz „nein heißt nein“ sehen sie nicht ausreichend im Gesetzentwurf verankert.
Die Grünen kritisieren, dass im Falle eines Strafverfahrens immer noch das Opfer in der Beweispflicht ist – und ein Gerichtsverfahren dadurch belastend sein kann. Halina Wawzyniak von der Bundestagsfraktion der Linken kritisiert, dass der Entwurf aus dem Justizministerium lediglich „Überraschungsfälle“ regelt – also solche, in denen der Wille des Opfers aufgrund von Umständen nicht gebildet oder geäußert werden kann. Aber eben nicht generell Fälle, in denen sexualisierte Gewalt gegen den erkennbaren Willen einer Person geschieht. Grüne und Linke haben jeweils eigene Gesetzentwürfe vorgelegt, die jedoch noch nicht im Bundestag diskutiert wurden.
Auch der Bundesrat hatte gefordert, dass ein klar formuliertes „Nein“ für eine Strafe ausreichen sollte. So sieht es auch Katja Grieger vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe: „Der Gesetzentwurf geht aber nach wie vor davon aus, dass Betroffene sich im Normalfall korperlich zur Wehr setzen. Diese Grundannahme ist schlicht falsch und stellt eine Erwartung dar, die viele Betroffene nicht erfullen konnen.“
In Hinblick auf die Übergriffe aus der Silvesternacht kommt zudem Kritik von der rechtspolitischen Sprecherin der Unionsfraktion Elisabeth Winkelmeier-Becker. Sie kritisiert, dass auch sexuelle Belästigung, die nicht die Grenze zur sexuellen Nötigung überschreite, unter Strafe gestellt werden müsse: „Auch wenn es "nur" um Grapschen geht, ist das ein massiver und traumatisierender Übergriff, der durch nichts zu rechtfertigen ist.“
Wie reagiert das Justizministerium auf die Kritik?
Im Justizministerium ist man überzeugt, dass mit dem aktuellen Gesetzentwurf „alle strafrechtlich relevanten Schutzlücken“ bei nicht einverständlichen sexuellen Handlungen geschlossen werden. Zur Kritik, dass sexuelle Belästigung durch die Reform nicht ausreichend geahndet werde, heißt es auf der Website des Ministeriums: „Die Erörterung eines Tatbestandes der sexuellen Belästigung bleibt dem parlamentarischen Verfahren vorbehalten.“ Außerdem könne sexuelle Belästigung wie beispielsweise der flüchtige Griff an die Brust einer Frau schon jetzt im Einzelfall strafbar sein.
Wie geht es jetzt weiter?
Der Bundestag und der Bundesrat müssen nun entscheiden. Im zuständigen Bundestagsausschuss wird in den kommenden Wochen weiter über das Gesetz beraten.