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Wo ostfriesische Palmen wachsen

Saatgut, das man nur einmal auf die Felder streuen kann? Dieser Entwicklung setzen manche Züchter ein Konzept von Sortenvielfalt entgegen

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Das ist die Geschichte von Pflanzen, die aus der Erde wachsen, ihre Blätter aufrichten und irgendwann Blüten bilden, in denen eines Tages Samen zu finden sind. Das ist aber auch die Geschichte vom Menschen, der die Kontrolle über diesen Prozess erlangen will.

Jahrtausendelang hatte jeder Landwirt von der Aussaat bis zur Ernte alles selbst in der Hand. Der Bauer oder Gärtner behielt einen Teil seiner Ernte als Saatgut. Er züchtete und kreuzte seine Pflanzen, verbesserte den Wuchs, die Robustheit, die Frucht und ihren Geschmack. Das Saatgut veränderte sich Jahr für Jahr und passte sich den Böden, den Schädlingen und dem lokalen Klima an. Es wurde eingelagert, ausgebracht, mit den Nachbarn getauscht. In jeder Saison waren die Nutzpflanzen ein bisschen anders. Die Idee, dass irgendeiner irgendein Recht an einer bestimmten Karottensorte haben könnte, oder dass jede Karotte gleich aussehen müsste, war damals noch nicht geboren.

Doch vor etwa 100 Jahren begann der Staat für Ordnung auf den Feldern zu sorgen. Jede Kartoffel wurde fortan gemessen, beschrieben und in irgendeine Liste gepackt. Wer eine neue Sorte züchtete und sie gewerblich vertreiben wollte, musste sie anmelden. Und der Staat, der ein Interesse an hohen Erträgen hatte und die Qualität der Samen sicherstellen wollte, entschied, ob sie erlaubt war oder nicht. Im Gegenzug bekam der Züchter irgendwann exklusive Rechte an der Vermarktung seiner Pflanze. Unter anderem, weil normale Bauern oft weder Zeit noch Geld für solche Prozeduren hatten, entstand die Saatgutindustrie.

„Wir wollen Freiheit für Sorten!“, fordert der Züchter und Aktivist Ludwig Watschong. Er ist ein hagerer Mann, der eine abgewetzte blaue Arbeitshose und eine zerschlissene Gärtner- weste trägt und zu den Pionieren der Saatgutbewegung in Deutschland gehört. Schon vor mehr als 30 Jahren begann sich Watschong Sorgen um die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen zu machen. Viele Obst- und Gemüsesorten, die man früher auf deutschen Märkten finden konnte, drohten auszusterben oder waren bereits verschwunden. Stattdessen baute ein wachsender Teil der Landwirte dasselbe an.

Staat und Saatgutindustrie haben gemeinsam dafür gesorgt, dass die Ernteerträge in Deutschland und Europa enorm gestiegen sind, diese Steigerungen wurden aber mit einem erhöh- ten Einsatz von Giften und einem Rückgang der Vielfalt in den Feldern und Gärten erkauft. Watschong und seine Mitstreiter erkannten diese Entwicklung schon in den 1980er-Jahren. Sie gründeten den „Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt“ (VEN), aus dem später in Witzenhausen, dem Zentrum des deutschen Ökolandbaus, der Saatgutversand „Dreschflegel“ hervorging. Auf 17 Höfen in ganz Deutschland züchten und vermehren die Mitglieder des Kollektivs „Dreschflegel“ heute Pflanzensorten, die in der industriellen Landwirtschaft keine Chance bekommen. Ein Gärtner in Ostfriesland hat sich zum Beispiel auf verschollene Grünkohlsorten wie die Ostfriesische Palme und den Diepholzer Dickstrunk spezialisiert. Ein anderer, der zwischen Schwarzwald und Kaiserstuhl anbaut, kümmert sich um Zackengurken, Hirschzungen und Teufelsohren.

Jeder Samen, der heute gewerblich auf einem europäischen Feld ausgebracht wird, hat eine langwierige und teure sogenannte Wertprüfung hinter sich. Zwölf EU-Richtlinien regeln, wie Saatgut beschaffen sein muss. Jedes Blatt einer Pflanze wird gemessen und mit Farbschablonen verglichen, jede Frucht gewogen und analysiert. In Behörden wie dem Bundessortenamt betreibt der Staat einen beachtlichen Aufwand, damit er Pflanzen wie Industrieprodukte bei der TÜV-Prüfung behandeln kann. Mehrere Jahre müssen die Nachkommen eines Samens immer identisch aussehen, um zugelassen zu werden. Wenn Früchte oder Blätter größer oder kleiner werden, wenn sie zu seltsamen Formen verwachsen oder die Farbe ändern, fallen sie durch. Es gibt allerhand technische Kriterien, die eine europäische Gemüsesorte für die Zulassung erfüllen muss. Ist sie ein Fortschritt? Sind die Erträge höher? Ist sie resistenter gegen Krankheiten, braucht sie weniger Pestizide? Wie eine Tomate, Kartoffel oder Gurke aussieht, ist sehr wichtig. Ob sich das aus dem Weizen gemahlene Mehl wirklich zum Backen eignet, auch. Ob unser Gemüse nach etwas schmeckt, ist dagegen weitgehend egal.

Der Hof von Ludwig Watschong liegt im Weserbergland, dem Grenzgebiet zwischen Niedersachsen und Hessen. Sanft geschwungene Hügel umrahmen seine Beete und sein Gewächshaus. Seine Arbeit ist der radikale Gegenentwurf zu Unternehmen, die ihre Pflanzen in Labors erschaffen, mit genetischen Manipulationen verändern und bestrebt sind, sich nicht nur den Sortenschutz, sondern sogar Patente zu sichern, eine viel weitreichendere Form von geistigem Eigentumsrecht. Bei Ludwig Watschong werden wilde Pflanzen nicht wie Unkraut behandelt, sondern sie dürfen sich in seinen Beeten gerne aussäen. Brennnesseln wachsen neben Pflanzbottichen, in denen eine seltene Wildreissorte aus Kanada keimt. In einem Folientunnel ragen die Spitzen von Zwiebeln aus der Erde. Daneben steckt ein besonderer Liebling von Watschong im Boden, der Elefantenknoblauch, eine handtellergroße Knolle, deren Zehen nach Porree schmecken.

Wie aufwendig die Arbeit eines Züchters ist, zeigt die Kerbelrübe, an der Watschong 1990 zu arbeiten begann. Die Rübe, die in Europa jahrhundertelang gegessen wurde, war praktisch nicht mehr vorhanden. Sie war einfach zu schwierig anzubauen und brachte zu niedrige Erträge. Watschong brauchte mehr als 20 Jahre, um diese Pflanze zurück in die Gärten zu bringen. Er kreuzte insgesamt zwölf verschiedene Rübenlinien, die er sich unter anderem aus Genbanken besorgte, bis er 2011 endlich wieder eine rückgezüchtete Kerbelrübe in der Hand hielt. So ein Gemüse wird oft als „alte Sorte“ bezeichnet, doch Watschong hält diesen Begriff für Quatsch: „Man denkt da so statisch. Auch eine vor 200 Jahren gezüchtete Sorte, die ich in meinem Garten anbaue, ist jedes Jahr wieder neu.“

Der potenzielle Vorteil dieser seltenen Sorten ist, dass in ihnen womöglich genetisches Material schlummert, das der Mensch bei Veränderungen des Klimas irgendwann einmal dringend brauchen könnte. Wer weiß, ob die Kerbelrübe nicht resistent gegen eine Krankheit ist, die in 20 Jahren auftritt und dann alle anderen Karotten dezimiert? Auch der Staat ist von der Bedeutung solcher seltenen Nutzpflanzen überzeugt. Statt dafür zu sorgen, dass sie auf möglichst vielen Äckern wachsen, werden diese Ressourcen jedoch nur in Genbanken verwahrt.

Während Watschong und seine Mitstreiter früher Tricks und Grauzonen nutzen mussten, um seltene Sorten in den Handel zu bringen (so wurden Kartoffeln beispielsweise als „Ansichtsexemplare“ verkauft, die nur bei „unsachgemäßer Behandlung“ keimten), ist die rechtliche Situation in den letzten Jahren für kleine Züchter besser geworden. Es scheint, als würde die genetische Vielfalt in den europäischen Gärten und Feldern an Bedeutung gewinnen. In den letzten europäischen Richtlinien zum Thema sind daher Ausnahmen enthalten. Die Samen von „Dreschflegel“ gelten als Amateur- und Erhaltungssorten und werden nicht mehr so streng geprüft wie zuvor. Im April 2018 stimmte das EU-Parlament für eine neue Bioverordnung, die wesentliche Erleichterungen für ökologisch arbeitende Züchter bringen soll.

Würde Watschong denken wie der Manager einer herkömmlichen Saatgutfirma, würde er versuchen, sich die Kerbelrübe sofort europaweit schützen zu lassen. Aber seine Kunden sollen die Samen der Kerbelrübe gerne selber weitergeben und vermehren, dass sich Pflanzen verbreiten ist ihm wichtiger als der Gewinn. „Das hier ist mein Leben“, sagt Watschong und deutet stolz auf seine Beete.

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